Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
«größtmöglicher Spielraum für den Assoziationsgeist», also gewerkschaftliche Betätigung, gehörte. «‹Hilf dir selbst, so wird Gott dir helfen›, lautet einer der weisesten Sprüche, die im Volk von Mund zu Mund gehen. Umgekehrt, wer sich selbst nicht hilft, dem kann Gott und dem kann auch der Staat nicht helfen. ‹Helft euch selbst› ist der Wahlspruch des nordamerikanischen Unternehmungsgeistes und der nordamerikanischen Arbeitskraft, die Zauberformel, welche jenseits des Ozeans binnen zweier Menschenalter eine ökonomische Macht ersten Ranges und eine Allgemeinheit des Wohlstandes geschaffen hat, wie die ganze bisherige Geschichte sie nie gesehen hat.»
Sechs Jahrzehnte nach der Französischen und ein Dreivierteljahrhundert nach der Amerikanischen Revolution stand Europa noch immer im Banne der Ideen von 1776 und 1789. Die Hinterlassenschaft jener Jahre ließ sich nicht so einfach tilgen wie die Inschrift «Liberté, égalité, Fraternité» auf den öffentlichen Gebäuden Frankreichs im Jahre 1852. Die Revolutionen von 1848 waren allesamt Versuche, eine politische Ordnung zu schaffen, die auf den Prinzipien der beiden westlichen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts beruhte und diese weiterentwickelte. Für die äußerste Linke um Marx und Engels war die radikale Phase der Französischen Revolution, die Zeit der jakobinischen «terreur», das Kapitel, aus dem sich am meisten für Gegenwart und Zukunft lernen ließ. Aus der Sicht eines gemäßigten Liberalen wie Rochau sprachen die Ergebnisse der Amerikanischen Revolution dafür, sich zumindest in Fragen der Gesellschaftsordnung ein Beispiel an den Vereinigten Staaten zu nehmen. Von einem konservativen Standpunkt aus bestätigte 1848 nur, was sich ungleich blutiger nach 1789 gezeigt hatte: daß aus der Selbstbefreiung der Völker nichts Gutes erwachsen konnte. (Nur für die Amerikanische Revolution gab es ein gewisses Verständnis, weil sie altes Recht verteidigt hatte.) Die Alternative zur Revolution hieß Reform und hatte vom Staat oder genauer gesagt vom Königtum auszugehen: So jedenfalls sah es ein moderater Konservativer wie der Wahlpreuße Lorenz von Stein aus dem schleswig-holsteinischen Eckernförde.[ 98 ]
Für eine sehr viel radikalere Form von Konservatismus stand der spanische Denker, Politiker und Diplomat Donoso Cortés, der die Februarrevolution in Paris miterlebt hatte und von November 1848 ab ein knappes Jahr lang Botschafter seines Landes in Berlin war. In einer Rede in den Cortes nannte er am 4. Januar 1849 Revolutionen die Krankheiten der reichen und freien Völker und bekannte sich unter dem lebhaften Beifall der Mehrheit zur Diktatur als einer legitimen und notwendigen Antwort auf ebendiese Krankheit. «Es handelt sich darum, zwischen der Diktatur, die von unten kommt, und der Diktatur, die von oben kommt, zu wählen; ich erwähle mir die, welche von oben kommt, weil sie aus reinlicheren und ausgeglicheneren Gegenden stammt. Es handelt sich schließlich darum, zu wählen zwischen der Diktatur des Dolches und der Diktatur des Säbels; ich wähle mir die Diktatur des Säbels, denn sie ist die vornehmere.»
Die politische Philosophie von Donoso Cortés war die der katholischen Gegenaufklärung und der Gegenrevolution in der Tradition von Bonald und de Maistre. Allem Übel dieser Welt lag demnach der religiöse Verfall zugrunde, der sich bis in das konstantinische Zeitalter, also in die Spätantike, zurückverfolgen ließ und mit der Reformation Martin Luthers, «mit diesem großen politischen und sozialen wie auch religiösen Skandal, mit diesem Akt der intellektuellen und moralischen Emanzipation der Völker», fortgesetzt hatte. In dem Maß, wie das «religiöse Thermometer» fiel, stieg das «politische Thermometer» – mit den bekannten revolutionären Konsequenzen. Zu diesen gehörten auch das Aufkommen des Sozialismus und der durch ihn hervorgerufenen Überschätzung der sozialen Frage. «Wenn man den Sozialismus bekämpfen will,» erklärte Cortés am 30. Januar 1850 in der Kammer, «ist es nötig, jene Religion zu Hilfe zu rufen, die die Reichen die christliche Liebe lehrt, die Armen die Geduld; die die Armen ergeben zu sein lehrt und die Reichen mitleidsvoll.»
Für Donoso Cortés gab es seit der Pariser Februarrevolution «nichts Festes, nichts Sicheres mehr in Europa». Spanien war in Europa immer noch das Land der größten Widerstandskraft, «das, was eine Oase in der Wüste Sahara ist». Außerhalb Spaniens war
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