Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
die Freiheit fast überall schon tot. Alles deutete auf einen Zusammenbruch hin, wie ihn die Menschheit noch nicht erlebt hatte. Alle Wege, selbst die einander entgegengesetzten, führten in Europa ins Verderben. Nach der Zerstörung der Gesellschaft und der Auflösung der stehenden Heere durch die Revolution, nach der Auslöschung der Vaterlandsliebe durch den Sozialismus bedurfte es nur noch des Zusammenschlusses der slawischen Völker, um Rußland in die Lage zu versetzen, sich Europas zu bemächtigen.
Selbst das monarchische und konservative England war nicht stark genug, um die zersetzenden Kräfte der in der Welt propagierten Ideen zu vernichten. Vor allem war es nicht katholisch. Das Radikalmittel gegen die Revolution und den Sozialismus konnte aber nur der Katholizismus sein, weil seine Lehre den absoluten Widerspruch zum Sozialismus bildete. Mittlerweile waren Kirche und Armee die einzigen Repräsentanten der europäischen Zivilisation, weil nur sie die Ideen von Autorität und Gehorsam unversehrt bewahrt hatten. Cortés sprach es nicht offen aus, aber seine Botschaft war doch klar: Wenn Europa sich dauerhaft gegen Revolution und Sozialismus schützen und der Eroberung durch Rußland entgehen wollte, mußte es sich radikal umbesinnen – und wieder katholisch werden.
Der Beifall, den Cortés mit seinen Reden bei der Mehrheit der Abgeordneten fand, macht deutlich, daß er für einen großen Teil des katholischen Spanien sprach. Was er vortrug, war eine geballte Kampfansage an Protestantismus, Aufklärung, Liberalismus, Demokratie und Sozialismus: überzeugend für die, die eine ähnliche reaktionäre Spielart von Katholizismus vertraten wie er selbst, nicht aber für Spanier, die sich dem Hauptstrom des westlichen Denkens verpflichtet fühlten. An der europäischen Revolution von 1848 hatte Spanien kaum teilgenommen; in der europäischen Gegenrevolution sollte es, soweit es nach Donoso Cortés ging, eine führende Rolle spielen. Doch auch unter den europäischen Konservativen gab es nicht viele, die dem liberalen Zeitgeist derart schroff gegenübertraten wie der wortgewaltige Sprecher der spanischen Rechten. Am ehesten entsprach wohl der österreichische Ministerpräsident Fürst Schwarzenberg den Vorstellungen Cortés’ von einer konsequent antirevolutionären Politik. Was der katholische «Ultra» zur sozialen Frage zu sagen wußte, war von der Wirklichkeit des früheren Industriezeitalters so weit entfernt, daß er keine Aussichten hatte, als Kritiker des Sozialismus und als politischer Antipode von Marx breitere Wirkung zu erzielen. Das Denken von Donoso Cortés war ein Ausdruck der Rückständigkeit Spaniens um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Es war zugleich der Versuch, das Land in seiner trotzigen Abwehrhaltung gegenüber dem modernen Europa nördlich der Pyrenäen zu bekräftigen.
In seiner Rede zur Lage Europas vom Januar 1850 war Cortés auch auf seine internationale Krise vom Sommer des Vorjahres eingegangen, in der sich zeitweilig die Gefahr eines Krieges zwischen den beiden westlichen Großmächten und Rußland abzeichnete: Das Zarenreich verlangte von der Türkei die Auslieferung von ungarischen und polnischen Freiheitskämpfern, darunter Kossuth, Dembinski und Bem, die nach der Niederschlagung der ungarischen Revolution ins Osmanische Reich geflüchtet waren. Die Pforte lehnte das russische Ansinnen unter Berufung auf das Völkerrecht ab; Großbritannien und, mit geringerem Nachdruck, Frankreich bestärkten den Sultan in seiner Haltung. Die britische Regierung schickte sogar, um den Ernst der Lage zu unterstreichen, Kriegsschiffe in die Dardanellen. Obwohl London damit die internationale Meerengenkonvention von 1841 verletzte, beugte sich der Zar dem Druck der Westmächte. Cortés vermerkte zu Recht, daß der Krieg nicht ausbrach, weil Rußland ihn nicht wünschte und nicht wünschen konnte.
Es waren keine wie immer gearteten ideologischen Gründe, die Großbritannien und Frankreich im Sommer 1849 in eine gemeinsame Front gegen Rußland brachten. Was zählte, war das Interesse beider Mächte, das Osmanische Reich als Faktor des europäischen Gleichgewichts zu erhalten und sich eben darum dem russischen Drang zum östlichen Mittelmeer entgegenzustellen. Rußland seinerseits mußte befürchten, sich bei einem Krieg aus einem ebenso unbedeutenden wie unpopulären Anlaß völlig zu isolieren. So gesehen betrieben die beteiligten Großmächte 1849 «Realpolitik» avant la lettre – etwas, was
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