Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
waren die Königreiche Preußen und Sardinien-Piemont. Daß es zu entsprechenden Initiativen kommen würde, war unschwer vorherzusagen: Die nationale Frage war in Deutschland so ungelöst wie in Italien, und auf Grund der Erfahrungen von 1848/49 war zu vermuten, daß den liberalen Kräften beider Länder das jeweils erreichbare Maß an nationaler Einheit im Zweifelsfall noch wichtiger sein würde als die volle Durchsetzung ihrer Vorstellungen von einem freiheitlichen Verfassungsstaat.
Für eine Anlehnung an bestehende Staaten, wenn diese denn ihrerseits zur Zusammenarbeit bereit waren, sprachen aus liberaler Sicht auch andere Überlegungen. Die Moderaten waren überzeugt, daß die Radikalen durch die Maßlosigkeit ihrer Forderungen der Reaktion in die Hände gearbeitet, ja den Sieg der Gegenrevolution erst ermöglicht hatten. Mit der Politik der gewaltsamen Konfrontation, die die gemäßigten Liberalen nie gesucht hatten, waren im Frühjahr 1848 zwar reaktionäre Regierungen überrumpelt und gestürzt worden. Aber im weiteren Verlauf hatte sich überall gezeigt, daß rebellierende Volksmassen einer Staatsgewalt, die ihre Machtmittel planvoll einsetzte, im Straßen- und Barrikadenkampf nicht gewachsen waren.
Man mußte kein gemäßigter Liberaler sein, um zu dieser Folgerung zu gelangen. Aus dem Abstand von fast einem halben Jahrhundert hat Friedrich Engels 1895 (in seiner Einleitung zur Neuausgabe von Marx’ Schrift über die «Klassenkämpfe in Frankreich») die These aufgestellt, daß die «Rebellion alten Stils, der Straßenkampf mit Barrikaden, der bis 1848 überall die letzte Entscheidung gab», inzwischen überholt sei, weil dank der Entwicklung der Technik das Militär Aufstände sehr viel leichter niederwerfen könne als damals und die Spaltung der Gesellschaft in die zwei Klassen der Bourgeoisie und des Proletariats seitdem so deutlich geworden sei, daß gemeinsame Aktionen des «Volkes» nicht mehr zu erwarten seien.
Es war ein Ausdruck proletarischer «Realpolitik», wenn Engels im Rückblick auch von den Irrtümern sprach, denen Marx und er selbst sich 1848 hingegeben hatten. Die industrielle und die gesellschaftliche Entwicklung war zu jener Zeit bei weitem noch nicht so fortgeschritten, wie beide es unterstellt hatten. Ende des 19. Jahrhunderts waren die Klassenverhältnisse sehr viel klarer, die Chancen der Arbeiterklasse, auf demokratischem und gesetzlichem Weg an die Macht zu gelangen, in vielen Ländern sehr viel besser als 1848. Zudem hatten auch die Regierenden aus der Revolution gelernt und, um ihre eigene Macht zu sichern, Forderungen von 1848 erfüllt, die langfristig dem Proletariat nützen mußten. Als Beispiele einer solchen Politik, die aus «Totengräbern der Revolution von 1848 ihre Testamentsvollstrecker» gemacht habe, nannte Engels Napoleon III. und Bismarck. Mit Blick auf die Zeit zwischen 1848 und 1871 lautete denn auch sein Fazit wie folgt: «Die Periode der Revolutionen von unten war einstweilen geschlossen; es folgt eine Periode der Revolutionen von oben.»
1848 war nicht die letzte Revolution in Europa, aber es war die erste und letzte europäische Revolution. Zur Begründung seines Verdikts, daß 1848 die letzte europäische Revolution war, verweist Reinhart Koselleck darauf, daß alle Bürgerkriege und Revolutionen, die nach der Jahrhundertwende in Europa ausbrachen, auf einzelne Länder oder Staaten beschränkt blieben. «Keine Revolution griff über die Grenzen hinaus, die sie vorfanden oder im Zuge der Veränderungen selber neu setzten oder zogen. Alle folgenden Unruhen, Aufstände oder Revolutionen blieben nationalstaatlich, schließlich nationaldemokratisch zurückgebunden. Und mehr noch: alle seitdem ausgebrochenen Bürgerkriege und Revolutionen waren, politisch gesehen, sekundäre Folgen vorausgegangener Staatenkriege» – verlorener oder verloren gehender Kriege, wie man wohl hinzufügen muß.
Das Scheitern der einzigen europäischen Revolution hatte weitreichende Wirkungen. 1848 prägte die Folgezeit so stark, daß es schwerfällt, irgendein großes Ereignis der europäischen Geschichte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts oder des 20. Jahrhunderts zu nennen, das nicht in einem wenigstens mittelbaren Bezug zu dieser Revolution steht. Ebendies macht 1848 zu einem Schlüsseljahr der neueren europäischen Geschichte – vielleicht zum Schlüsseljahr schlechthin.[ 99 ]
Wandernde Grenzen: Die Westexpansion Amerikas im internationalen Vergleich
Auf der anderen
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