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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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der Berufung eines den Vizekönig beratenden Gesetzgebungsorgans Rechnung trug.
    Eine andere Mahnung Mills hatte in den ersten Jahren nach der Erhebung der Sepoys eher vorbeugenden Charakter: Eine repräsentative Demokratie, wie sie sich in England entwickelt hatte, paßte zu fortgeschrittenen Gesellschaften in Europa, den Vereinigten Staaten und den europäisch geprägten britischen Kolonien in Kanada, Australien und Neuseeland, nicht aber zu östlichen Gesellschaften wie Indien und China, die in früheren Epochen Hochkulturen hervorgebracht hatten, inzwischen aber in ihren Traditionen erstarrt waren und kein Gespür für den Wert von Individualismus und Meinungsfreiheit besaßen.
    In seinen 1861 erschienenen «Considerations on Representative Government» zog Mill aus dieser Feststellung weitreichende Folgerungen: «Bei einer im betreffenden Lande selbst sich herausbildenden Despotie ist ein guter Despot eine seltene und zufällige Erscheinung. Steht die Bevölkerung aber unter der Herrschaft eines zivilisierten Volkes, so sollte dieses in der Lage sein, fortlaufend gute Despoten zu stellen. Das herrschende Land sollte für seine Untertanen alles das leisten, was eine Folge absoluter Monarchen zu leisten imstande wäre, die durch unangreifbare Macht gegen die für barbarische Despoten typische Instabilität gesichert sind, und durch seinen Genius befähigt sein, all das vorweg zu nehmen, was die Erfahrung der fortgeschrittenen Nation gelehrt hat. Dies ist das Ideal der Herrschaft eines freien Volkes über ein primitives oder halbzivilisiertes Volk.»
    Eine absolute Monarchie, wie England sie selbst nie gekannt hatte, als Mittel, um zurückgebliebene Kolonialgesellschaften auf die Höhe der westlichen Zivilisation zu heben: In dieser historischen Mission sah Mill die Rechtfertigung des britischen Empire. Anders als Tocqueville in seinen Betrachtungen über die französische Herrschaft in Algerien hielt Mill die Kolonialvölker grundsätzlich für fähig, sich in der gewünschten, ja für notwendig erachteten Richtung zu entwickeln und damit langfristig aus der Abhängigkeit von der Kolonialmacht zu befreien. Das Ideal einer aufgeklärten Kolonialherrschaft mochte einstweilen unerreichbar erscheinen, aber eine Annäherung daran war durchaus möglich. Wo diese nicht zu verzeichnen war, machten sich Mill zufolge «die Herrschenden einer Vernachlässigung der höchsten moralischen Verpflichtung schuldig, welche einer Nation zufallen kann. Und wo sie gar dieses Ideal noch nicht einmal anstreben, sind sie egoistische Usurpatoren, ebenso verbrecherisch wie jene, deren Ehrgeiz und Habgier zu allen Zeiten mit dem Geschick großer Teile der Menschheit ihr Spiel getrieben haben.»
    Für Indien ergab sich daraus eine Maxime, von der Mill um 1861 nicht sicher sein konnte, daß Großbritannien sie befolgen würde: «Nicht durch den Versuch, es direkt zu beherrschen, kann das englische Volk einem Land wie Indien gegenüber seine Pflicht tun, sondern nur dadurch, daß es ihm gute Herrscher gibt.» Tatsächlich ging die Entwicklung in die entgegengesetzte Richtung. Vor der Erhebung der Sepoys hatte es in Indien ein Nebeneinander von direkter und indirekter Herrschaft Großbritanniens gegeben. Durch den Aufstand von 1857/58 wurde dieser Zustand nicht beseitigt: Es gab, vor allem in den Gebieten, die für die Briten wirtschaftlich weniger wichtig waren, weiterhin rund 40 große und über 500 kleine «Fürstenstaaten» (princely states), in denen einheimische Dynasten unter britischer Aufsicht «herrschten». Die Kolonialmacht trat aber in der Folgezeit sehr viel «staatlicher» in Erscheinung als zuvor: Großbritannien übte die Herrschaft beziehungsweise Oberhoheit nicht mehr mittelbar, durch eine Handelsgesellschaft, sondern unmittelbar, durch seine Regierung und den von ihr eingesetzten Vizekönig, aus.
    Im Prinzip widersprach direkte Kolonialherrschaft dem Geist des Freihandels, dem das Vereinigte Königreich sich 1846 durch die Abschaffung der Kornzölle zugewandt hatte. Wenn man sich konsequent auf den Boden des wirtschaftlichen Liberalismus stellte, waren Kolonien mit dem freien Wettbewerb zwischen den Nationen nicht vereinbar; sie schadeten vielmehr langfristig dem wohlverstandenen Eigeninteresse der Kolonialmacht. Großbritannien folgte dieser Erkenntnis insofern, als es jenseits der eigenen Grenzen informelle Herrschaft der formellen vorzog. Einen anderen Staat in Europa oder in Übersee wirtschaftlich und politisch von sich

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