Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Bentinck, dem Generalgouverneur der Jahre 1828 bis 1835, wurde das Englische als Verwaltungssprache eingeführt, das höhere Bildungswesen anglisiert und ein Verbot des «sati», der bei den Hindus üblichen Witwenverbrennung, erlassen. Die Jahre 1843 bis 1849 standen im Zeichen der Konsolidierung der britischen Herrschaft: Die Sikhs am oberen Indus wurden niedergeworfen, Sindh und Pandschab annektiert. Die Kolonialherren widmeten sich verstärkt dem Bau von Straßen und Bewässerungssystemen sowie der Ausweitung des Post- und Telegraphenverkehrs. 1855 eröffneten die Briten die erste von bald vielen Eisenbahnstrecken, eine weitere wichtige Voraussetzung der späteren Industrialisierung Indiens. 1856 verfügte Generalgouverneur Dalhousie die Annexion des Staates des Nawabs von Oudh, dem die Briten Mißwirtschaft vorwarfen. 1857 wurden die Universitäten Kalkutta, Bombay und Madras gegründet.
Im 18. Jahrhundert hatte sich die Ostindienkompanie, der die Regierung Indiens oblag, mit Eingriffen in einheimische Traditionen noch zurückgehalten. Mitte des 19. Jahrhunderts stand für die britische Kolonialverwaltung fest, daß es an der indischen Kultur so gut wie nichts gab, was bewahrenswert gewesen wäre. Das Ziel hieß umfassende Verwestlichung, und nur ein Land war in der Lage, diesen historischen Auftrag treuhänderisch zu erfüllen: Großbritannien. Verwestlichung bedeutete aus der Sicht von Architekten der britischen Indienpolitik wie James Mill, einem Schüler des Utilitaristen Jeremy Bentham und Inhaber eines hohen Amtes im Londoner India Office, vor allem Erziehung zu einer selbstverantwortlichen Lebensführung und Anpassung an die Erfordernisse einer modernen arbeitsteiligen Gesellschaft, also Beseitigung all dessen, was die indische Tradition der Verwirklichung dieses Vorhabens entgegenstellte, nicht jedoch systematische Bekehrung der Hindus und Muslime zum Christentum. Die Tätigkeit der christlichen Missionare, darunter vieler schottischer Presbyterianer, wurde zwar gern gesehen, war aber kein Teil der amtlichen britischen Indienpolitik.
Der Nutzen, den das Mutterland aus dem Ausbau seiner kolonialen Herrschaft zog, war zuallererst ein wirtschaftlicher: Indien lieferte Opium, das im Austausch gegen Tee nach China exportiert wurde, sowie Salz, Indigo und Rohbaumwolle. Es diente als Absatzmarkt für britische Industriegüter und namentlich für maschinengewebte Tuche, die die handgewebten Tuche aus Bengalen immer mehr verdrängten. Indien trug um 1850 etwa 5 Prozent zum britischen Volkseinkommen bei: ein Anteil, der ausreichte, um die jährlichen Zinsen für die Staatsschuld des Vereinigten Königreiches zu bezahlen. Doch der Besitz von Indien warf nicht nur ökonomischen Gewinn ab. Er verbürgte etwas Unbezahlbares: den Rang Großbritanniens als führende Seemacht, ja als die Weltmacht des industriellen Zeitalters, als welche sich England 1851 auf der ersten Weltausstellung im Crystal Palace in London stolz präsentierte.
Die forcierte Verwestlichung Indiens hatte ihre einheimischen Unterstützer, namentlich unter den Hindus, aber sowohl bei ihnen wie bei den Muslimen gab es auch viele, die sich vor einer wachsenden Überfremdung durch die Briten fürchteten, darunter Soldaten, die in der etwa 250.000 Mann starken britisch-indischen Armee dienten. Im Mai 1857 wurde schlagartig deutlich, wie tief die Kluft zwischen den britischen Offizieren und den indischen Söldnern, den Sepoys, inzwischen war. In der Armee hatte sich das Gerücht verbreitet, die Schutzhülle neuer Patronen, die aus Kartonpapier gemacht war und vor dem Einsatz mit den Zähnen abgerissen werden mußte, sei mit einer Mischung aus Rinder- und Schweinefett eingeschmiert worden: ein Verfahren, das die Reinheitsvorstellungen von Hindus und Muslimen zutiefst verletzen mußte. Weiter hieß es, die Briten hätten die Neuerung bewußt eingeführt, um die indischen Soldaten zum Abfall von ihrer Religion und zum Übertritt zum christlichen Glauben zu zwingen.
Ein britischer Oberst in Meerut, nahe Delhi, war von den Gerüchten so alarmiert, daß er sich entschloß, ihnen vor 90 ausgewählten Soldaten seiner Truppe, des 19. bengalischen Infanterieregiments, öffentlich entgegenzutreten. Nach seiner Rede befahl er den Soldaten, die Patronen auszuteilen. Bis auf fünf weigerten sich alle, den Befehl auszuführen. Die Folge war ein Verfahren vor dem Kriegsgericht, das mit hohen Zuchthausstrafen für die Befehlsverweigerer endete. Die gesamte Truppe
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