Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
mußte mit ansehen, wie die Verurteilten in Ketten gelegt und abgeführt wurden.
Am folgenden Tag brach der Aufstand aus, der als «Indian Mutiny» in die Geschichte des britischen Empire einging. Die Erhebung traf die Briten völlig unvorbereitet. Die rebellierenden Hindus und Muslime stürmten das Gefängnis, in dem die verurteilten Soldaten einsaßen, befreiten sie, töteten anschließend wahllos in einer wilden Racheorgie britische Offiziere und Zivilisten, darunter Frauen und Kinder. Anschließend zogen sie nach Delhi, wo sie den widerstrebenden letzten Großmogul, den greisen und machtlosen Bahadur Shah, zum «Kaiser von Hindustan» ausriefen und über 40 britische Frauen durch die Straßen trieben, vergewaltigten und danach umbrachten. Nach Delhi fielen wenig später auch Lucknow und Kanpur in die Hände der revoltierenden Hindus und Muslime, die nunmehr drauf und dran schienen, ganz Nordindien in Aufruhr zu versetzen. Erst als es den Briten gelang, irreguläre Verbände von Sikhs in den Kampf zu schicken, wendete sich das Blatt. Im September 1857 wurde Delhi, im Dezember Kanpur, im März 1858 Lucknow zurückerobert. Am längsten dauerten die Kämpfe im weiter südlich gelegenen Gwalior, das im Juni 1858 kapitulierte. Es folgten Massenexekutionen. Manche der Rebellen wurden bei lebendigem Leibe verbrannt, manche vor die Mündungen von Kanonenrohren gebunden und in Stücke gesprengt.
Viele der aufständischen Sepoys stammten aus Oudh, das kurz vor dem Beginn der Rebellion von den Briten annektiert worden war. Dort wie in anderen Teilen von Nordindien fand die Erhebung einen starken Rückhalt bei den alten Grundherren, die sich gegen die Steuergesetze der Briten auflehnten, und bei Bauern, die sich von Grundstücksspekulanten bedrückt fühlten. Die Sikhs des Pandschab hingegen, die von der britisch-indischen Armee einige Jahre zuvor besiegt worden waren, schlossen sich dem Aufstand nicht an, und auch die kriegerischen Gurkhas in Nepal blieben den Briten gegenüber loyal. Dasselbe galt von den einheimischen Fürsten, die der britischen Oberhoheit unterstanden. Zu den Gegnern der Revolte gehörte auch die neue gebildete Mittelschicht, die auf eine weitere Verwestlichung Indiens setzte und eben darin die Voraussetzung der Befreiung von fremder Herrschaft sah. Die «indische Meuterei» war, wenn man von solchen Erwartungen ausging, ein durch und durch rückschrittliches Unterfangen und alles andere als ein Beitrag zur Schaffung einer modernen und selbständigen indischen Nation.
Großbritannien reagierte auf die bislang schwerste Krise seines zweiten, nach der Niederlage im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg aufgebauten Empire mit einer dramatischen Kurskorrektur. Die East India Company, die 1813 ihr Handelsmonopol verloren hatte und sich seit 1833 ganz auf ihre Regierungsfunktionen beschränken mußte, wurde für die aufrührerische Stimmung in Indien verantwortlich gemacht und 1858, 258 Jahre nach ihrer Gründung, aufgelöst. Indien unterstand fortan direkt der britischen Krone; der Generalgouverneur wurde zum Vizekönig; im Londoner Kabinett wurde der neue Posten eines Ministers für Indien geschaffen, der wie alle Minister dem Unterhaus verantwortlich war. 1861 wurde ein neues beratendes Gremium für Indien, der Imperial Legislative Council, ins Leben gerufen, dem auch einige vom Vizekönig ernannte indische Mitglieder angehörten. 1876 nahm die Queen Victoria den Titel «Empress of India» an. Die christliche Mission wurde nach 1858 drastisch eingeschränkt. Großbritannien hielt sich nunmehr an die tolerante Devise, daß Hindus und Muslime auf ihre Weise selig werden sollten. Bibelunterricht an Regierungsschulen wurde folgerichtig untersagt.
Einer der führenden liberalen Denker der Zeit, John Stuart Mill, der Sohn von James Mill und Briefpartner von Tocqueville und Comte, hatte die Entwicklung in Indien schon deswegen aufmerksam verfolgt, weil er seit 1823 bei der East India Company in London angestellt war. 1858 verteidigte er in offizieller Position wie aus Überzeugung die Gesellschaft gegen die Kritik im Mutterland und warnte vor der Illusion, ein dem Parlament verantwortlicher Minister in London wäre besser als sie imstande, Entscheidungen zu treffen, die der Lage in Indien angemessen waren. Der Sachverstand, der nur an Ort und Stelle erworben werden konnte, mußte auch weiterhin in die britische Innenpolitik einfließen: ein Votum, dem die Regierung drei Jahre nach der Auflösung der Company mit
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