Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
sollten. Als besonders gefährlich empfanden die Demokraten auf dem linken Flügel der Deutschen Fortschrittspartei das Auftreten des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins: Er stelle ihren Anspruch, Vertreter des einfachen Volkes zu sein, radikal in Frage und provozierte sie zusätzlich durch den Ruf nach Staatshilfe, eine Kampfansage an das von Hermann Schulze-Delitzsch propagierte liberale Prinzip der Selbsthilfe. Ob Liberale im engeren Sinn oder Demokraten: beide Flügel der Fortschrittspartei hatte Lassalle an ihrer empfindlichsten Stelle getroffen, als er den Liberalen im Frühjahr 1862 in einem Vortrag in Berlin vorwarf, sie wagten nicht auszusprechen, daß Verfassungsfragen «ursprünglich nicht Rechtsfragen, sondern Machtfragen» seien. Ebendies blieb ein Merkmal der liberalen Opposition gegen Bismarck im preußischen Verfassungskonflikt: Sie verteidigte das Recht mit den Mitteln des Rechts, durch Kritik an der Regierung in Presse und Parlament sowie durch Ablehnung ihrer Haushaltspläne und anderer Gesetzesvorlagen, aber nicht durch Aufruf zum Widerstand gegen eine Staatsgewalt, die den Rechtsboden der Verfassung verlassen hatte.
Vieles kam zusammen, um das liberale Bürgertum defensiv zu stimmen: Die Erinnerung an die gescheiterte Revolution war noch frisch; die Angst vor der «roten» Gefahr hatte in der Zwischenzeit nicht abgenommen; auf dem platten Land übte das Junkertum nach wie vor starken politischen Einfluß auf Bauern und Landarbeiter aus. Das Dreiklassenwahlrecht ließ den Liberalismus stärker erscheinen, als er war; wäre in Preußen nach dem allgemeinen gleichen Wahlrecht gewählt worden, hätten die Konservativen, vielleicht auch eine Arbeiterpartei liberale Kandidaten vielerorts in große Bedrängnis gebracht. Die Fortschrittspartei machte den preußischen Militärstaat dafür verantwortlich, daß das Bürgertum sich nicht freier hatte entwickeln können. Durch die Heeresreform sollte das Militär noch stärker, das Bürgertum weiter geschwächt werden: Das war der wichtigste Grund für das Nein, das der Liberalismus den einschlägigen Forderungen der Regierung entgegensetzte.
Gleichzeitig wiesen die Liberalen immer wieder auf die ungerechte Verteilung der Militärlasten in Deutschland hin. Nach der Bundeskriegsverfassung von 1821 durfte, um auch nur den «Schein von Suprematie eines Bundesstaates über den anderen» zu vermeiden, kein Staat mit mehr als drei Armeekorps am Bundesheer teilnehmen. Da ein erheblicher Teil des preußischen Staatsgebietes, nämlich Ost- und Westpreußen sowie Posen, nicht zum Deutschen Bund gehörte, war der Hohenzollernstaat berechtigt, mehr Militär zu unterhalten, und das tat er auch: Die Zahl seiner Armeekorps belief sich auf neun. Die übrigen deutschen Staaten konnten damit rechnen, daß Preußen im Fall einer äußeren Bedrohung sein gesamtes militärisches Gewicht in die Waagschale werfen würde, und entsprechend gering hielten sie die eigenen Anstrengungen auf dem Gebiet des Heereswesens.
Für die Fortschrittspartei, und zumal für ihren rechten Flügel, ergab sich darauf die Forderung nach einer Umverteilung der deutschen Militärlasten zugunsten Preußens. Die hohen preußischen Militärausgaben hätten eine «Verkümmerung und Beschränkung des Wohlstandes und damit der disponiblen Kräfte des Volkes» zur Folge, und daher sei die Schaffung einer deutschen Armee, die materielle Sicherung der Einheit Deutschlands, das wichtigste Ziel: So formulierte es der ehemalige Paulskirchendemokrat Wilhelm Löwe-Calbe, der seit 1863 Abgeordneter der Fortschrittspartei im preußischen Landtag war, 1861 in den «Deutschen Jahrbüchern».
Wenn die deutsche Einheit das wichtigste Ziel war, mußte die liberale Opposition gegen Bismarcks «Konfliktministerium» in dem Augenblick in eine schwierige Situation geraten, wo die Regierung etwas tat, was nach Meinung der Fortschrittspartei im nationalen Interesse lag. Zu Beginn von Bismarcks Amtszeit gab es nur ein Gebiet, auf dem die Liberalen mit der Regierung übereinstimmten: die Handelspolitik. Im März 1862 hatte Preußen einen liberalen, die Zollsätze drastisch herabsetzenden Handelsvertrag mit Frankreich abgeschlossen. Da Napoleon III. seinerseits zwei Jahre zuvor im «Cobden-Vertrag» die Zollbarrieren gegenüber Großbritannien weitgehend abgebaut hatte, bedeutete der preußisch-französische Vertrag eine Richtungsentscheidung: für den wirtschaftlichen Anschluß an das freihändlerische Westeuropa, gegen das
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