Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
in denen er Alleinherrscher des Kongo gewesen war, ließ Leopold vernichten. Im Dezember 1909 starb er im Alter von 71 Jahren. Vier Jahre später, 1913, stellte die Congo Reform Association ihre Arbeit ein.
Koloniale Gewalt gab es im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert nicht nur im Kongo. Auf Zwangsarbeit griff auch Großbritannien, obschon in vergleichsweise unblutiger Form, in seinen ost- und südafrikanischen Besitzungen zurück. 1894 empörte sich Roger Casement anläßlich einer Reise durch das heutige Nigeria über die Erhängung von 27 zwangsverpflichteten Soldaten, die wegen der Auspeitschung ihrer Frauen gemeutert hatten, in der deutschen Nachbarkolonie Kamerun. 1892 sah sich Deutschland genötigt, Carl Peters, den Reichskommissar für Deutsch-Ostafrika, wegen schwerer Verfehlungen in der «Eingeborenenpolitik» zur Disposition zu stellen; fünf Jahre später wurde er nach einem Disziplinarverfahren entlassen. Die Verfolgung und Vernichtung der aufständischen Hereros in Deutsch-Südwestafrika in den Jahren 1904 bis 1907, auf die noch einzugehen sein wird, war ein Völkermord: ein Begriff, der auf den Kongo König Leopolds II. nicht paßt, weil der Gewalt der Force Publique nicht die Absicht zugrunde lag, ganze Bevölkerungsgruppen auszurotten.
Was den Kongo der Jahre 1885 bis 1908 zu einem der schrecklichsten Kapitel der westlichen Kolonialgeschichte macht, war der langanhaltende, alltägliche, mit barbarischen Methoden erzeugte Terror im Dienst wirtschaftlicher Ausbeutung, nur notdürftig und immer weniger erfolgreich bemäntelt durch humanitäre Phrasen des Hauptnutznießers, eines konstitutionellen Monarchen. Daß der Horror im Kongo kein singuläres Geschehen war, ja noch übertroffen werden konnte, ahnten die Kritiker nicht, denen es im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts mit großer Beharrlichkeit gelang, den krassesten Formen des Terrors, wenn auch nicht der Ausbeutung und Unterdrückung der «Eingeborenen» des Kongo ein Ende zu bereiten.
Bei der Entstehung des Kongostaates hatte die materielle Habgier eines Einzelnen die ausschlaggebende Rolle gespielt. Für manche kritischen Zeitgenossen war dieses Motiv jedoch ein Wesensmerkmal des Imperialismus schlechthin. Im Jahre 1902 legte der britische Ökonom John Atkinson Hobson unter dem Eindruck des Burenkrieges sein Buch «Imperialism. A Study» vor, das großen Einfluß auf spätere sozialistische Theoretiker von Karl Kautsky und Rudolf Hilferding über Rosa Luxemburg bis zu Lenin haben sollte. «Unser einziges Programm ist das der moralischen und materiellen Regeneration des Landes»: Hobson zitierte Leopold II., der mit diesem Wort seine Kongopolitik innen- und außenpolitisch zu rechtfertigen versuchte, um daraus allgemeinere Schlußfolgerungen abzuleiten. Die Äußerung des Königs der Belgier stehe für die Fähigkeit des Menschen und vor allem der Politiker, sich über die eigenen Motive zu täuschen und sie zu überhöhen. Aus der Selbsttäuschung ergebe sich die Täuschung der Völker als natürliche Folge. Die Machtgier werde durch den Appell an patriotische Gefühle veredelt und dem Imperialismus ein religiöser und philanthropischer Sinn verliehen, etwa wenn der Erzbischof von Canterbury sich in diesem Zusammenhang auf den Auftrag Jesu berufe, in alle Welt hinauszugehen und alle Völker das Evangelium zu lehren.
Die tatsächlichen Ursachen der imperialistischen Expansion waren für Hobson völlig andere als die von ihren Apologeten genannten. Die Eroberung fremder Märkte in Übersee ging diesem Autor zufolge auf die Bestrebungen kleiner, aber politisch einflußreicher Wirtschaftsgruppen zurück, denen Kapitalinvestitionen in wirtschaftlich weniger entwickelten Gebieten attraktiver erschienen als im Inland, dessen Markt Hobson für unbegrenzt ausdehnbar hielt. Unterkonsumtion im Mutterland, eine Folge zu niedriger Löhne, bedingte überschüssiges Kapital und Überproduktion, die sich ein Ventil in fremden, Überseeischen Märkten suchten. Das «surplus income», das einige wenige aus Kolonien und anderen abhängigen Gebieten bezogen, war der eigentliche wirtschaftliche Ansporn des Imperialismus.
Für die Volkswirtschaft insgesamt war der Ertrag des aggressiven Imperialismus Hobson zufolge vernachlässigenswert, während die Risiken, die aus internationalen Konflikten erwuchsen, hoch waren. Die logische Konsequenz des Imperialismus war die Militarisierung von Gesellschaften wie der britischen und der amerikanischen, die bisher
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