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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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auf der internationalen Bühne zu demonstrieren. Das Gleichgewicht der Mächte litt jetzt an Überfüllung (The balance of power became ‹overcrowded›), und Expansion und Kompensation waren innerhalb Europas nicht mehr möglich. Nach 1870 verlegten sich folglich alle europäischen Mächte auf außereuropäische Eroberungen an der globalen Peripherie, wo sich ein Zuwachs an Territorien, Ressourcen und militärischen Stützpunkten, die alle zu Macht und Prestige beitrugen, bequem erreichen ließ.»
    Für Doyle ist das internationale System, wie es sich nach 1870 herausformte, das dritte im 19. Jahrhundert. Vorausgegangen waren das erste, das «Konzert der Großmächte», das 1815 durch den Wiener Kongreß geschaffen wurde und sich im Gefolge der Revolutionen von 1848 nach 1850 auflöste, und das zweite, das im Zeichen der «Realpolitik» stand und mit dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 endete. Das dritte internationale System war geprägt durch das Übergewicht Deutschlands (predominance of Germany) und hielt bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Sommer 1914. Das Neue dieser Phase lag weniger in der Natur der Bestandteile des Systems als in der Zahl und der relativen Macht der konkurrierenden Staaten. Ungeachtet des politischen Übergewichts Deutschlands war das System in dieser Zeit multipolar; das Übergewicht Großbritanniens im Welthandel war zwar geringer als zuvor, aber noch immer gab es an der Peripherie eine Pax Britannica.
    Das galt jedenfalls bis 1879, dem Jahr der ägyptischen Revolte gegen die britisch-französische Finanzkontrolle, der britisch-russischen Konfrontation in Afghanistan und der Einführung von Schutzzöllen in Deutschland. 1879 begann das, was Doyle die Kolonialisierung des diplomatischen Systems nennt: der wachsende Einfluß von Überseeinteressen in der Politik der europäischen Mächte. «Für die Briten bedeutete dieser Impuls Schutz des Seewegs nach Indien durch Ägypten und den Suezkanal, was die Kontrolle über das Quellgebiet des Nils und eine dominierende Stellung in Ostafrika erforderlich machte. Für die Deutschen und die Franzosen meinte der Impuls die Eroberung von ‹Plätzen an der Sonne›, um nationales Prestige zu gewinnen.»
    Es war mithin die außereuropäische Welt, soweit sie noch verfügbar schien, auf die sich nach 1870/71 der Wettkampf der europäischen Mächte um Einfluß und Prestige vergleichsweise gefahrlos konzentrieren konnte und daher konzentrierte. Das Streben als solches hatte eine lange Tradition. Es entsprach dem «agonalen Prinzip», das im klassischen Griechenland seinen klassischen Ausdruck gefunden hatte. «Immer der erste zu sein, voranzustreben den andern» war eine Absolventen humanistischer Gymnasien geläufige Devise eines Helden in Homers «Ilias». Die englische Nutzanwendung bestand darin, den Machtverlust, den das Vereinigte Königreich durch die Gründung des Deutschen Reiches erlitten hatte, durch Stärkung des Empire auszugleichen. Das militärisch geschlagene Frankreich konnte seine «gloire» nur außerhalb Europas, in Afrika und Asien, wiederherstellen, und daß es dies tat, darauf drängten nicht nur Politiker der Rechten, sondern auch die Armee.
    Der junge deutsche Nationalstaat wollte bei der Verteilung der Welt nicht abseits stehen: ein Gefühl, das Bismarck zwar nicht teilte, dem er aber 1884/85 durch den Erwerb von Kolonien in Afrika und im Pazifischen Ozean einen gewissen Tribut zollte. Der andere junge Nationalstaat, Italien, dachte ähnlich, und seit der als Demütigung empfundenen Verwandlung des nahe gelegenen Tunis in ein französisches Protektorat im Jahre 1881 mehr als je zuvor. 1882 kaufte die Regierung Depretis einer italienischen Schiffahrtsgesellschaft die Hafenstadt Assab am roten Meer ab; 1884/85 folgte mit Unterstützung Englands die Besetzung von Massaua in Eritrea; 1887 mußte Italien beim Versuch, in äthiopien einzudringen, bei Dogali eine schwere Niederlage hinnehmen. Gewissermaßen als Ausgleich wurde 1889 ein breiter Küstenstreifen am Horn von Afrika erobert und zum Protektorat Italienisch-Somaliland erklärt. Im gleichen Jahr schloß Italien mit dem neuen Negus Menelik den Freundschafts- und Handelsvertrag von Uccialli, den die Regierung in Rom als Begründung eines italienischen Protektorats über äthiopien interpretierte, was der Negus aber sogleich entschieden bestritt. Im Jahr darauf konnte diese diplomatische Schlappe durch die Konstituierung der italienischen Kolonie Eritrea

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