Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Oberpräsident das Reichsland. 1879 erhielt Elsaß-Lothringen den Status eines Bundesstaates mit eingeschränkten Rechten: Er durfte mit beratender Stimme im Bundesrat mitwirken. Der Statthalter in Straßburg, der im gleichen Jahr an die Spitze der Verwaltung trat und die Stimmen des Reichslandes im Bundesrat instruierte, unterstand direkt dem Kaiser. Eine Volksvertretung konnten die Elsaß-Lothringer erst seit 1911 wählen; bis dahin ersetzte ein Landesausschuß von Notabeln den Landtag. Eine gewisse Annäherung an die übrigen deutschen Staaten war nicht zu übersehen: An dem Reichsgesetz von 1879 hatten die Reichstagsabgeordneten der gemäßigten «Autonomisten» um August Schneegans, nicht jedoch die zahlenmäßig überlegenen «Protestler» aktiv mitgewirkt. Seit 1890 ging der Einfluß der «Protestler» deutlich zurück. Bei den Reichstagswahlen von 1893 übertrafen die Mandatszahlen der Abgeordneten deutscher Parteien und der Autonomisten sogar die der teils klerikalen, teils liberalen Protestler.
1887 lief das zweite, 1880 bewilligte Septennat, der auf sieben Jahre befristete Militäretat, aus. Unter dem Eindruck der Ernennung eines erklärten «Revanchisten», des Generals Boulanger, zum französischen Kriegsminister – eines Ereignisses, auf das zurückzukommen ist – forderte Bismarck im Januar 1887 den Reichstag auf, ein neues Septennat zu bewilligen. Die Ablehnung des Antrags gab dem Reichskanzler den Anlaß, den Reichstag etwa neun Monate vor Ablauf seiner dreijährigen Legislaturperiode aufzulösen. Der anschließende Wahlkampf stand ganz im Zeichen einer Kampagne gegen die französische Gefahr. Deutschkonservative, Freikonservative und Nationalliberale bildeten ein «Kartell», das sich für ein neues Septennat einsetzte. Der patriotische Appell hatte Erfolg. Im neuen, im Februar 1887 gewählten Reichstag gab es erstmals seit 1881 wieder eine regierungsfreundliche Mehrheit, bestehend aus den drei «Kartellparteien», die über 220 von 397 Sitzen verfügten. Das erste Gesetz, dem sie zur Annahme verhalfen, war das im März verabschiedete dritte Septennat.
Ein Jahr später, am 9. März 1888, starb im Alter von 90 Jahren Kaiser Wilhelm I. Sein Nachfolger war, als er den Thron bestieg, bereits todkrank: Er litt an Kehlkopfkrebs. Kaiser Friedrich – der Dritte nach preußischer Königszählung –, von Ausbildung und Haltung her nicht weniger Offizier als sein Vater, war gleichwohl sehr viel liberaler als dieser. Es mag mit am Einfluß seiner Frau Victoria, der Tochter der Queen, gelegen haben, daß er starke Sympathien für das parlamentarisch regierte England empfand, gute Verbindungen zu führenden deutschen Linksliberalen unterhielt, seine Ablehnung der Judenfeindschaft immer wieder klar zum Ausdruck brachte und Bismarck bei aller Hochachtung reserviert gegenüberstand. Es ist viel darüber gerätselt worden, welchen Verlauf die deutsche Geschichte wohl genommen haben würde, wenn Kaiser Friedrich eine längere Regierungszeit beschieden gewesen wäre: Hätte das Reich sich vielleicht liberalisiert und parlamentarisiert und eine Verständigung mit England, etwa in der Flottenpolitik, angestrebt? Skeptiker unter den Zeitgenossen äußerten schon früh Zweifel, ob ein solcher Kurswechsel gegen das junkerlich geprägte Preußen durchsetzbar gewesen wäre. Wie auch immer: Friedrich saß nur 99 Tage auf dem Thron. Am 15. Juni 1888 starb er im Alter von 56 Jahren. Ihm folgte sein neunundzwanzigjähriger Sohn, Wilhelm II. 1888 wurde zum Dreikaiserjahr.
Wilhelm II. war in fast allem Wesentlichen das Gegenteil seines Vaters: nicht liberal, sonder zutiefst autoritär; führenden Antisemiten wie dem Dom- und Hofprediger Adolf Stoecker zeitweilig eng verbunden; vielseitig begabt, aber oberflächlich; ein eitler, prunkliebender Schwadroneur, der seine Unsicherheit und eine angeborene körperliche Schwäche, den verkrüppelten linken Arm, durch markige Reden auszugleichen versuchte. Daß er mit Bismarck rasch aneinandergeraten würde, war anzunehmen. Schon 1886/87, als zur «Boulangerkrise» mit Frankreich auch noch starke Spannungen zwischen dem Zarenreich und Österreich-Ungarn auf dem Balkan hinzukamen, hatte sich der Prinz auf die Seite der «Kriegspartei» um den Generaladjutanten des Kaisers, den Grafen Waldersee, geschlagen, die auf einen präventiven Zweifrontenkrieg gegen Rußland und Frankreich drängte. Von ehrgeizigen Günstlingen wie dem dichtenden und komponierenden Grafen Philipp von Eulenburg
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