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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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und Kanzlergegnern wie dem Juden- und Russenhasser Waldersee in seiner Neigung zur Selbstüberschätzung bestärkt, war Wilhelm, als er den Thron bestieg, entschlossen, so bald wie möglich aus dem Schatten des Reichsgründers herauszutreten und selbst die Zügel zu ergreifen.
    Konflikte zwischen dem jungen Kaiser und dem alten Kanzler entbrannten schon bald, und das auf unterschiedlichen Feldern. Wilhelm II. wollte Anfang 1890 um den Sozialdemokraten den Donner zu stehlen, spektakuläre Maßnahmen im Bereich des Arbeitsschutzes, darunter ein Verbot der Sonntagsarbeit, beschließen lassen; Bismarck sträubte sich zunächst, weil er die gegenteilige politische Wirkung befürchtete, und setzte dann auf die Möglichkeit, den Vorstoß im Gesetzgebungsverfahren zu Fall zu bringen. Ernster noch war ein Zwist um die fünfte Verlängerung des auf zweieinhalb Jahre befristeten Sozialistengesetzes von 1878. Die Nationalliberalen wollten diesem Anliegen des Kaisers nur dann zustimmen, wenn der besonders empörende Ausweisungsparagraph fiel. Bismarck lehnte dies ab, während Wilhelm II. ein solches Zugeständnis befürwortete, um das Gesetz als ganzes zu retten. Die Deutschkonservativen wiederum wollten die entschärfte Vorlage nur passieren lassen, wenn der Reichskanzler sich im Reichstag für die Streichung aussprach: ein Ansinnen, das Bismarck zurückwies.
    Am 25. Januar 1890 überstimmte eine «negative» Mehrheit aus Deutschkonservativen, Zentrum, Freisinnigen, Sozialdemokraten, Elsaß-Lothringern, Polen, Dänen und Welfen die Minderheit aus Nationalliberalen und Freikonservativen: Mit 169 Nein- gegen 98 Ja-Stimmen wurde das entschärfte Sozialistengesetz in dritter Lesung abgelehnt, so daß das seit zwölf Jahren gültige Gesetz am 30. September 1890 außer Kraft trat. Mit der Abstimmung vom 25. Januar 1890 hatte die Sozialdemokratie moralisch gesiegt; das «Kartell» von 1887 war zerbrochen und die Machtposition Bismarcks nachhaltig geschwächt.
    Ende Februar 1890 wurde in den üblichen zwei Wahlgängen ein neuer Reichstag gewählt: Am 20. Februar fand der erste Wahlgang statt; acht Tage später folgten die Stichwahlen. Die «Kartellparteien» erlitten eine schwere Niederlage und verloren ihre parlamentarische Mehrheit; Wahlsieger waren zum einen die Sozialdemokraten, die erstmals wählerstärkste Partei, die ihren Stimmenanteil von 10,1 auf 19,7 Prozent steigern, also fast verdoppeln konnten und 35 statt 11 Sitze errangen, zum anderen die Freisinnigen, die von 12,9 auf 16 Prozent und von 32 auf 66 Mandate anwuchsen. Mit dem neuen Reichstag zu regieren war für den Kanzler schlechthin unmöglich. Selbst wenn er das Zentrum hinter sich gebracht hätte (und ein vertrauliches, von dem Bankier Gerson von Bleichröder, Bismarcks Finanzberater, vermitteltes Gespräch mit dem Parteivorsitzenden Ludwig Windthorst am 12. März 1890 schien auf eine solche Absicht hinzudeuten), war eine gouvernementale Mehrheit aus Konservativen, Nationalliberalen und katholischer Partei auf Grund innerer Gegensätze, vor allem zwischen Nationalliberalen und Zentrum, praktisch nicht vorstellbar.
    Zum verschärften Kampf mit der Sozialdemokratie, und das hieß gegen den neuen Reichstag, entschlossen, ging Bismarck in einer Sitzung des preußischen Staatsministeriums am 2. März so weit, die Niederlegung der deutschen Kaiserkrone durch den König von Preußen und eine Auflösung des Reiches durch die Fürsten in Erwägung zu ziehen. Wilhelm II. schien zunächst zum Staatsstreich bereit, schreckte dann aber doch vor den Folgen zurück. Damit war Bismarcks antiparlamentarischer Kurs gescheitert. Der Kanzler hatte sich in eine Sackgasse manövriert. Sein Staatsstreichsplan enthüllte schlagartig den lediglich aufschiebenden Charakter des Kompromisses, mit dem 1866 der preußische Verfassungskonflikt beigelegt worden war. Bei einem Machtkampf zwischen Parlament und Exekutive mußte sich der Regierung früher oder später die Frage stellen, ob sie sich der Mehrheit der Volksvertretung anpassen oder die Verfassung brechen wollte. Bismarck war 1890 bereit, den zweiten Weg zu gehen.
    Der Konflikt zwischen Kaiser und Kanzler strebte gerade seinem Höhepunkt zu, als am 17. März der russische Botschafter, Graf Schuwalow, bei Bismarck erschien, um ihm mitzuteilen, daß die Regierung in St. Petersburg ihn, den Botschafter, ermächtigt habe, die Verhandlungen über eine Verlängerung des im Juni 1890 auslaufenden Rückversicherungsvertrages von 1887 zum Abschluß

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