Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
hat und unfähig geworden ist, Selbstkritik zu üben», schrieb Hobson 1902. Er berief sich in diesem Zusammenhang auf Platons Deutung der Lüge als Folge eines unbewußten Selbstbetrugs der Seele.. Er hätte auch den Begriff der «Lebenslüge» verwenden können, den Henrik Ibsen in seinem 1885 geschriebenen Schauspiel «Die Wildente» geprägt hat.[ 20 ]
Befestigungsversuche: Deutschland in den 1880er Jahren
Die Kolonialpolitik war für Deutschland in den achtziger Jahren nur ein Betätigungsfeld unter vielen. Zu Beginn des Jahrhunderts stand zunächst die Beilegung des Kulturkampfs im Vordergrund. Dem neuen Papst Leo XIII., der sein Pontifikat im Februar 1878 angetreten hatte, lag schon deswegen an einer Verbesserung des Verhältnisses zum Deutschen Reich, weil in Frankreich nach den Wahlen von 1877 die erklärten Laizisten an die Regierung gekommen waren. Bismarck war seinerseits zu der Auffassung gelangt, daß der Kulturkampf nicht zu gewinnen, eine kirchliche Rückendeckung im Kampf gegen die Sozialdemokratie aber von Nutzen war. Zwischen 1880 und 1887 verabschiedete der Reichstag mehrere «Milderungsgesetze», durch die die meisten Kampfmaßnahmen der siebziger Jahre zurückgenommen wurden. Erhalten blieben unter anderem das Verbot des Jesuitenordens, das 1917 fiel, der Kanzelparagraph, der bis 1953 galt, und die Zivilehe. 1882 wurden die diplomatischen Beziehungen zwischen Preußen und dem Vatikan wieder aufgenommen, die Bismarck zehn Jahre zuvor abgebrochen hatte.
Ein anderes überragendes Thema war der Aufbau einer Sozialversicherung. Bismarck war seit längerem entschlossen, den Weg in Richtung eines «Königtums der sozialen Reform» zu beschreiten, wie es Lorenz von Stein schon 1850 gefordert hatte und die «Kathedersozialisten» des Vereins für Sozialpolitik um Gustav von Schmoller seit den frühen siebziger Jahren befürworteten. Der Reichskanzler war überzeugt, daß der monarchische Staat sich durch eine aktive Sozialpolitik eine zusätzliche Legitimation verschaffen und der Sozialdemokratie das Wasser abgraben konnte. «Es ist möglich, daß unsere Politik einmal zugrunde geht», bemerkte er im Juni 1881 gegenüber seinem Mitarbeiter Moritz Busch. «Aber der Staatssozialismus paukt sich durch. Jeder, der diesen Gedanken aufgreift, wird ans Ruder kommen.»
Bismarck hätte am liebsten auf Versicherungsbeiträge der Arbeiter ganz verzichtet und sie durch Zuschüsse des Reiches ersetzt. Mit dieser Absicht drang er wegen bürokratischer und parlamentarischer Widerstände ebensowenig durch wie mit seinem in diesem Zusammenhang verfolgten Projekt einer berufsständischen Kammer, die den Einfluß des Reichstags zurückdrängen sollte. Das erste Sozialversicherungsgesetz war das über die Krankenversicherung von 1883. Es verpflichtete die Arbeitnehmer, die nicht einer freiwilligen Hilfskasse angehörten, sich bei einer Ortskrankenkasse zu versichern; die Arbeitnehmer mußten zwei Drittel, die Arbeitgeber ein Drittel der Kosten tragen. Ihm folgte die Unfallversicherung von 1884, deren Kosten ausschließlich den genossenschaftlich organisierten Arbeitgebern auferlegt wurden. Den Abschluß bildete das Gesetz über die Alters- und Invalidenversicherung von 1889. Es verteilte die Kosten zu je einem Drittel auf die Arbeitgeber, die Arbeitnehmer und das Reich.
Das qualitativ Neue an der deutschen Sozialversicherung war der individuelle Rechtsanspruch auf soziale Leistungen, der an die Stelle der traditionellen Armenfürsorge trat. Die Gesetze der achtziger Jahre nahmen Staat und Gesellschaft in die Pflicht. Sie mußten Notlagen abhelfen, die die Einzelnen nicht zu verantworten hatten und die sie nicht abwenden konnten. Damit wurde Deutschland zum Pionierland der Sozialversicherung. Ohne die «innere Reichsgründung» von 1878/79 wären die Sozialversicherungsgesetze kaum möglich gewesen: Ebenso wie die Schutzzölle setzten sie die Abwendung vom Manchesterliberalismus des «laisser faire, laisser aller» voraus.
Zu den Gegnern des «Staatssozialismus» und damit der Sozialversicherungsgesetze gehörten die Linksliberalen beider Richtungen, die Deutsche Fortschrittspartei und die Sezessionisten in der Liberalen Vereinigung. Sie schnitten bei den Reichstagswahlen vom Oktober 1881 beide sehr gut ab und kamen zusammen auf mehr als ein Fünftel der Wählerstimmen, während die Nationalliberalen und die Freikonservativen schwere, die Sozialdemokraten leichte Verluste hinnehmen mußten, das Zentrum sich behaupten
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