Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
zu bringen, und zwar mit Bismarck und nur mit ihm oder gegebenenfalls seinem Sohn Herbert, dem Staatssekretär des Auswärtigen Amtes. Schuwalow kam zu spät. Am gleichen Tag traf bei Bismarck die Aufforderung Wilhelms II. ein, er möge um seine Entlassung bitten. Am 18. März entsprach Bismarck diesem Ersuchen. Am 20. März 1890 wurde er aus seinen Ämtern als Reichskanzler, preußischer Ministerpräsident und preußischer Außenminister entlassen. Der Rückversicherungsvertrag wurde nicht verlängert: Die Gegner von Bismarcks Rußlandpolitik, Generalstabschef Graf Waldersee und der Vortragende Rat Friedrich von Holstein, die «Graue Eminenz» des Auswärtigen Amtes, nutzten die vermeintliche Gunst der Stunde, um den Kaiser davon zu überzeugen, daß es für Deutschland am besten sei, den russischen Wunsch nicht zu erfüllen.
Bismarcks Sturz bewahrte Deutschland vor einer schweren Staatskrise. Das Kampfprogramm des ersten Reichskanzlers lief auf eine mehr oder minder verhüllte Militärdiktatur hinaus, woraus sich unter Umständen ein Bürgerkrieg hätte entwickeln können. Ende der achtziger Jahre stand Bismarck außen- wie innenpolitisch am Rand des Scheiterns. Das Verhältnis zu Rußland hatte er selbst durch die Schutzzölle für Getreide und das Lombardverbot für russische Wertpapiere schwer belastet, eine Verlängerung des Rückversicherungsvertrags wäre auch nur ein befristeter Notbehelf gewesen. Damit war die Grundlage seines Bündnissystems in Frage gestellt, das dazu dienen sollte, die Gefahr eines Zweifrontenkrieges zu bannen. In der wichtigsten innenpolitischen Streitfrage, der Verlängerung des Sozialistengesetzes, hatte der Kanzler sich selbst alle Kompromißmöglichkeiten verbaut. Er bezahlte seine Starrheit mit dem Debakel der Reichstagswahl vom Februar 1890 und kurz darauf mit seiner Entlassung.
Das Urteil über Bismarcks Außenpolitik ist seit dem Untergang des Kaiserreichs geprägt durch den Vergleich mit dem, was seine Nachfolger auf dem Feld der internationalen Beziehungen gewollt, getan und bewirkt haben. Vor diesem Hintergrund erscheint die auswärtige Politik des Reichsgründers als durchdacht, maßvoll und im besten Sinn staatsmännisch. Tatsächlich läßt sich auf Bismarcks weithin improvisierte, durchaus widerspruchsvolle Bündnispolitik ein Begriff anwenden, den Lothar Gall in seiner Biographie des Reichsgründers auf die Innenpolitik der Jahre nach 1881 geprägt hat: Sie war ein «System der Aushilfen».
Und dennoch: Bismarck war ein Meister der Diplomatie und ein geschworener Gegner auftrumpfender Macht- und Prestigepolitik, fähig, Gefahren rechtzeitig zu erkennen, Wünschenswertes und Erreichbares strikt zu trennen, die Interessen anderer Mächte realistisch einzuschätzen und je nach den Bedingungen eine Option durch eine andere zu ersetzen. Er hielt Deutschland nach 1871 für «saturiert» und hatte nie den Ehrgeiz, es der alten Weltmacht England gleichzutun. Dieses Ziel verfolgten erst die, die ihn beerbten und sich stark genug fühlten für eine Politik gezielter Herausforderungen nach dem Motto «Viel Feind, viel Ehr».
Dem «Eisernen Kanzler» als Innenpolitiker historische Größe zu bescheinigen, wird hingegen kaum noch einem Historiker einfallen. Die Bedenkenlosigkeit, mit der er politische Gegner zu «Reichsfeinden» stempelte, vergiftete das parlamentarische und das öffentliche Leben, und das über die Regierungszeit Bismarcks hinaus. Die Sozialdemokraten wären auch dann nicht zu einer Stütze des Kanzlers geworden, wenn es das Sozialistengesetz nie gegeben hätte. Das Zentrum hingegen hätte ohne den Kulturkampf durchaus Teil eines gemäßigten konservativen Regierungslagers werden können.
Die Parlamentarisierung Deutschlands kam freilich nicht nur deswegen nicht zustande, weil Bismarck sie nicht wollte und weder Preußen noch die anderen Einzelstaaten daran dachten, den Bundesrat durch den Reichstag entmachten zu lassen. Es waren die stärksten prinzipiellen Befürworter eines parlamentarischen Systems, die Nationalliberalen, die ihre Vormachtstellung durch den Kulturkampf auf Dauer sichern und einen parlamentarischen Machtwechsel hin zu einer katholisch-konservativen «Koalition» unmöglich machen wollten. Dazu kam seit den achtziger Jahren und verstärkt nach 1890 die Angst der meisten bürgerlichen Parteien vor einer Majorisierung durch die Sozialdemokratie, für die ihrerseits eine parlamentarische Koalition mit der bürgerlichen Mitte nicht in Frage kam,
Weitere Kostenlose Bücher