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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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weil dies der Lehre vom Klassenkampf widersprach. Von einem parlamentarischen System war Deutschland um 1890 womöglich noch weiter entfernt als bei der Reichsgründung.
    Die Nation wuchs trotzdem zusammen, und das so sehr, daß 1890 außer Bismarck kaum jemand eine Auflösung des Reiches erwog. Gegner des Reiches waren jene, die ihm gezwungenermaßen angehörten, die Polen, die Dänen und die französischsprachigen Bewohner des Reichslandes. Die deutschsprachigen Elsaß-Lothringer hingegen hatten sich inzwischen in ihrer Mehrheit mit der Zugehörigkeit zum Deutschen Reich abgefunden, nach den Protestanten immer mehr auch die zahlenmäßig sehr viel stärkeren Katholiken. Bei den Reichstagswahlen von 1890 erlitten die «Protestler» eine schwere Niederlage. Die «altdeutschen» Unterlegenen von 1866 hatten, von einigen norddeutschen «Welfen» abgesehen, ohnehin längst ihren Frieden mit dem preußisch geführten Reich gemacht, die meisten von ihnen bereits 1870/71.
    Die enge Bindung an den historischen Einzelstaat, seinen Landesherrn und seine Dynastie, vertrug sich durchaus mit der Treue zum Reich, sie festigte diese sogar. Deutschland war auch nach 1871, in den Worten des Historikers Dieter Langewiesche, eine «föderative Nation». Zwei Jahrzehnte nach der Reichsgründung war das Gefühl der Zusammengehörigkeit der Deutschen mindestens ebenso stark wie das für die jeweiligen landsmannschaftlichen Besonderheiten. Daß dem so war, war das Ergebnis gemeinsamer Erfahrungen in Krieg und Frieden, eines wachsenden gemeinsamen Verkehrs- und Kommunikationsnetzes, einer gemeinsamen Währung, gemeinsamer Einrichtungen wie des Kaisertums, des aus einer Volkswahl hervorgegangenen Reichstags und des Reichsgerichts, gemeinsamer Parteien und Interessenverbände und nicht zuletzt patriotischer Erziehung durch Schule und Militär. In der Zeit, als Bismarck gehen mußte, war die Herausbildung einer deutschen Staatsnation weitgehend abgeschlossen.
    Solange er Reichskanzler war, hatte Bismarck die Deutschen in Bewunderer und Gegner gespalten. Mit seinem Rückzug in den Sachsenwald östlich von Hamburg, den Besitz, den Kaiser Wilhelm I. ihm 1871 als Dank für die Gründung des Deutschen Reiches geschenkt hatte, begann der eigentliche Kult um den «Reichsschmied». Bei jeder denkbaren Gelegenheit wurde sein triumphal klingendes Wort «Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts auf der Welt …» zitiert. Was er in seiner Reichstagsrede vom 6. Februar 1888 diesem Halbsatz hinzugefügt hatte, geriet in Vergessenheit: «... und die Gottesfurcht ist es schon, die uns den Frieden lieben und pflegen läßt.»
    Bismarck war ein Meister des geschriebenen und gesprochenen Wortes, und trotz einer hohen Fistelstimme ein eindrucksvoller Redner. Er hat viel zu dem beigetragen, was man «Parlamentskultur» nennen kann, einer Ausweitung der Rechte des Reichstags aber sich immer widersetzt und nie gezögert, die Volksvertretung aufzulösen, wenn ihre Mehrheit etwas anderes wollte als er. Der große Mann war auch ein großer Hasser und in seinem Haß oft sehr klein. Als Eduard Lasker im Januar 1884 bei einem Besuch in den Vereinigten Staaten in New York starb, weigerte sich Bismarck, eine Beileidsbotschaft des amerikanischen Repräsentantenhauses an den Reichstag weiterzuleiten. Deswegen von Abgeordneten zur Rede gestellt, hielt Bismarck es für richtig, den toten Gegner im Reichstag nochmals anzugreifen.
    Für die meisten Deutschen wurde Bismarck nach 1890 immer mehr zu dem Helden, der den Traum vom neuen deutschen Reich verwirklicht hatte. Große Teile des Bürgertums empfanden es nicht oder nicht mehr als Mangel, daß den Deutschen die politische Freiheit in Gestalt einer selbstgewählten, dem Parlament verantwortlichen Regierung vorenthalten blieb. Theodor Mommsen, einer der Liberalen, die Bismarck im preußischen Verfassungskonflikt bekämpft, nach 1866 unterstützt und nach 1880 wieder bekämpft hatten, schrieb am 3. Januar 1902, im Jahr vor seinem Tod, in einem Brief an den Nationalökonomen Lujo Brentano: «Bismarck hat der Nation das Rückgrat gebrochen …» Das war gewiß kein unparteiisches Fazit der 28 Jahre, die Bismarck erst Preußen, dann Deutschland regiert hatte. Aber aus der Sicht eines entschiedenen Liberalen sprach vieles für dieses Verdikt.[ 21 ]
    Die opportunistische Republik: Frankreich zwischen Reform und Krise
    Um dieselbe Zeit, als Deutschland durch die «innere Reichsgründung» von 1878/79 nach rechts gerückt war,

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