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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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und die Deutschkonservativen Gewinne verbuchen konnten. Die Nationalliberalen zogen aus dem Rückgang ihrer Stimmen von 23,1 auf 14,7 Prozent nach längeren internen Auseinandersetzungen eine einschneidende Konsequenz: Sie stellten sich auf Drängen des einflußreichen Frankfurter Oberbürgermeisters Johannes von Miquel auf den Boden von Bismarcks Sozialpolitik.
    Bei den Reichstagswahlen vom Oktober 1884 zahlte sich der Kurswechsel in bescheidenem Umfang aus: Die Nationalliberalen gewannen knapp drei Prozentpunkte hinzu. Die eindeutigen Verlierer waren die Linksliberalen, die sich zuvor in der Deutschen Freisinnigen Partei zusammengeschlossen hatten. Ihnen nutzte weder das Nein zu den ersten beiden Sozialversicherungsgesetzen noch das zur Kolonialpolitik. Zu den Gewinnern zählten die Sozialdemokraten, die ihren Stimmenanteil von 6,1 auf 9,7 Prozent steigerten. Die Deutschkonservativen konnten wegen der Privilegierung der schwach besiedelten ostelbischen Wahlkreise trotz leichter Stimmenverluste ihre Mandatszahl von 50 auf 78 erhöhen. Von einer festen regierungsfreundlichen Mehrheit war der neue Reichstag kaum weniger weit entfernt als sein Vorgänger.
    Seit 1886 rückte ein Problem in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit, das teilweise wirtschaftlicher und sozialer, teilweise «nationaler» Natur war: der Bevölkerungsrückgang der agrarischen Ostprovinzen Preußens. Viele Bewohner waren nach Übersee ausgewandert, viele hatten sich ins Ruhrgebiet, das «industrielle Herz» Deutschlands, begeben, darunter mehr Deutsche als Polen. Infolgedessen wuchs der polnische Anteil an der Bevölkerung der Ostgebiete, während der deutsche sank. Unter dem Eindruck einer Kampagne gegen die schleichende «Polonisierung» und für die «Germanisierung des Bodens» unterbreitete die preußische Regierung im Frühjahr 1886 dem Abgeordnetenhaus den Entwurf eines Gesetzes, das den Ankauf von polnischem Grundbesitz aus einem Fonds unter Kontrolle einer Königlichen Ansiedlungskommission vorsah. Ende April trat das Gesetz in Kraft.
    Daß Preußen das aufgekaufte Land nicht, wie zunächst beabsichtigt, in Domänen verwandelte, sondern für Zwecke der Ansiedlung deutscher Bauern verwandte, ging auf das Drängen der Nationalliberalen zurück. Der Geldaufwand für die Siedlungspolitik war erheblich: Er belief sich zwischen 1886 und 1914 auf rund 1 Milliarde Goldmark. Der Erfolg der «inneren Kolonisation» hielt sich jedoch in engen Grenzen: Trotz massiver Unterstützung durch den 1894 gegründeten Deutschen Ostmarkenverein konnten bis zum Ersten Weltkrieg lediglich 22.000 Bauern, zusammen mit ihren Familienangehörigen knapp 120.000 Deutsche, in Posen und Westpreußen angesiedelt werden.
    Flankiert wurde die «Germanisierung des Bodens» durch die sprachliche Germanisierung des Ostens. Bereits in den Jahren 1876 und 1877 hatten erst Preußen, dann das Reich auf dem Gesetzesweg den Vorrang des Deutschen als Amtsprache im Behördenverkehr und vor Gericht festgelegt. Von der sprachlichen Germanisierung waren nicht nur die Polen, sondern auch die Dänen in Nordschleswig und die französischsprachigen Bewohner des Gebiets um Metz betroffen. Ein «Volkstumskampf» aber wurde nur im Osten des Reiches geführt, wo «Germanen» auf «Slawen» stießen. Nur den Polen, nicht aber den Dänen und Franzosen gegenüber gab es jenen Anspruch auf kulturelle und rassische Überlegenheit, der an die Attitüde von Kolonialherren gegenüber «Eingeborenen» erinnerte und der deutschen Herrschaft über polnischsprachige Gebiete Züge von kolonialer Beherrschung verlieh. In seiner rassistischen Begründung ähnelte der Antipolonismus auch dem Antisemitismus, womit die Polenfeindschaft aus dem Rahmen des «normalen» deutschen Nationalismus herausfiel. Doch den Polen warf anders als den Juden niemand vor, sie strebten nach der Herrschaft über Deutschland, ja nach der Weltherrschaft. Diese Beimengung von Unterlegenheitsgefühlen gab es nur im Antisemitismus. Der Judenhaß war damit noch etwas anderes als der «normale» Rassismus, unter dem die Polen zu leiden hatten.
    Auch Elsässer und Lothringer wurden diskriminiert, aber in sehr viel milderer Form als die Polen. Eine «Option» nutzend, hatten bis 1873 etwa 50.000 Bewohner des neuen «Reichslandes» ihre Heimat in Richtung Frankreich verlassen. Die verbliebenen Elsässer und Lothringer hatten geringere Rechte als die übrigen Deutschen. Zunächst verwaltete ein vom Reichskanzler eingesetzter

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