Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
war einhellig.
Im Frühjahr 1905 erfaßte die Unruhe die Bauern, und das vor allem in zwei Regionen, in denen die ungelöste Agrarfrage mit einer ungelösten nationalen Frage zusammentraf. Im Kaukasus vertrieben bewaffnete Bauern, von den Menschewiki inspiriert, die Behördenvertreter und gründeten revolutionäre Selbstverwaltungsorgane; im Baltikum verweigerten die Bauern Steuern und Dienstleistungen wie den Wegebau; wenig später begannen Streiks von lettischen Landarbeitern gegen die deutschen Gutsbesitzer, woraus sich eine Art von Partisanenkrieg entwickelte. Auch hier war der Einfluß der menschewistischen Sozialdemokraten zu spüren.
Der Juni sah Unruhen und Barrikadenkämpfe in Lodz und anderen polnischen Städten, die Besetzung des Panzerkreuzers «Potjomkin», der zur Schwarzmeerflotte gehörte, durch meuternde Matrosen und einen Generalstreik in Odessa. Im September besetzten die Studenten während eines Druckerstreiks in Moskau die Hochschulen und öffneten sie den Arbeitern. Am 7. Oktober begann in Moskau ein Eisenbahnerstreik, der unter aktiver Mitwirkung der Intellektuellen des Bundes der Bünde in einen landesweiten Generalstreik überging. In St. Petersburg wurde von den Delegierten aller Fabriken ein «Arbeitersowjet» gewählt; in seinem Exekutivkomitee spielte der damalige Menschewik Leo Trotzki die führende Rolle. Die Bauernunruhen traten im Oktober in eine neue Phase; sie ergriffen jetzt auch die zentralen Schwarzerdegebiete, die Ukraine und die Gebiete an der mittleren Wolga; auch wohlhabende Bauern beteiligten sich am Kampf gegen die Grundbesitzer, der häufig mit Judenpogromen Hand in Hand ging.
Über den Ernst der Lage konnte sich nun auch Nikolaus II. nicht länger hinwegtäuschen. Auf Drängen Wittes entschloß er sich zu seinem bisher weitestgehenden Zugeständnis: Am 30. Oktober verkündete er das «Oktobermanifest». In dem von Witte verfaßten Dokument wurden den Russen die klassischen bürgerlichen Freiheitsrechte gewährt und eine aus allgemeinen Wahlen hervorgegangene Duma in Aussicht gestellt. Erstmals berief der Zar einen Ministerpräsidenten, nämlich Witte. Dieser trat an die Spitze eines nach dem Kollegialprinzip gebildeten Kabinetts, in das Nikolaus II. als Gegengewicht zu Witte und einigen als liberal geltenden Ministern einen Mann seines besonderen Vertrauens, Innenminister Durnowo, entsandte. Pobedonoszew und andere als besonders reaktionär verschriene Politiker mußten ihre Positionen räumen.
Das Oktobermanifest wurde zum Wendepunkt der russischen Revolution von 1905. Die gemäßigten Kräfte sahen den Punkt erreicht, wo die Revolution der Evolution Platz machen mußte. Die radikalen Kräfte wollten die Revolution weitertreiben, konnten damit aber in den meisten Städten keine Arbeitermassen mehr hinter sich bringen. Im Dezember wurden nach einem Aufruf zur Steuerverweigerung und zur Abhebung aller Sparguthaben die 250 Delegierten des Petersburger Sowjet verhaftet und Trotzki in die Verbannung nach Sibirien geschickt. Teile der Arbeiterschaft antworteten mit Streiks, aber diese nahmen keine für das Regime gefährlichen Ausmaße mehr an.
Lenin, der seine revolutionäre Arbeit seit April 1903 von Genf aus betrieb, hatte bereits im Sommer 1905 den Anhängern der Bolschewiki in Rußland die Devise «bewaffneter Aufstand» übermittelt. Im November kehrte er nach Rußland zurück. In St. Petersburg fand er mit seinen Appellen zur gewaltsamen Erhebung kein Gehör, wohl aber in Moskau, wo der radikale Flügel der Sozialrevolutionäre und die Bolschewiki viele Anhänger hatten. Die Nachricht von der Verhaftung des Petersburger Sowjet wirkte als Fanal: Am 20. Dezember rief der von den Bolschewiki beherrschte Moskauer Sowjet die Arbeiter zu einem neuen Generalstreik auf. Neun Tage lang kämpften etwa 2000 bewaffnete Arbeiter unter maßgeblicher Beteiligung der linken Sozialrevolutionäre gegen das Militär, das sich erst durchsetzen konnte, nachdem am 29. Dezember Verstärkung aus St. Petersburg eingetroffen war. Lenin erlebte die Niederschlagung des Aufstands in Finnland, wohin er sich am 24. Dezember begeben hatte. Auch viele Bolschewiki warfen ihm in der Folgezeit vor, daß sein Drängen auf den bewaffneten Kampf Ausdruck eines voluntaristischen Abenteurertums gewesen sei.
Im Februar und März 1906 fanden die ersten Dumawahlen der russischen Geschichte statt. Gewählt wurde auf Grund eines im Dezember ergangenen Wahlgesetzes, das ein allgemeines, indirektes und
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