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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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zu der Erzeugung jenes Reformdrucks gekommen, der zur Vorgeschichte der Revolution von 1905 gehört.
    Blickt man auf die Ergebnisse des Machtkampfes, so scheint manches dafür zu sprechen, die Revolution eine «bürgerliche» zu nennen. Doch auch dieser Begriff trifft die Sache nicht. Ein breites, entwickeltes und selbstbewußtes Bürgertum gab es im Rußland des frühen 20. Jahrhunderts noch immer nicht, und die Errichtung der «zentralistischen Herrschaft der modernisierten Bürokratie», von der Weber sprach, war ganz und gar nicht, was die klassischen «bürgerlichen Revolutionen», die Amerikanische von 1776 und die Französische von 1789, erstrebt oder zuwege gebracht hatten. Angesichts ihrer breiten, klassenübergreifenden Trägerschicht kann man die russische Revolution von 1905 durchaus eine «Volksrevolution» nennen. Gemessen an den Zielen der Reformbewegung, war sie, als im April 1906 die Verfassung in Kraft trat, nicht gescheitert; das unterschied sie von der deutschen Revolution von 1848/49. Aber die Veränderungen, die der widerstrebenden Staatsmacht abgerungen und von dieser als hochgefährlich betrachtet wurden, gingen doch nicht so weit, daß die Autokratie nicht in erneuerter Form hätte überleben können. «Nur ein unglücklicher europäischer Krieg würde die Selbstherrschaft endgültig zertrümmern»: So heißt es in einer hellsichtigen Anmerkung, die Max Weber um die Jahreswende 1905/06 seinem Aufsatz «Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Rußland» nach der Niederwerfung des Moskauer Arbeiteraufstands im Dezember nachträglich hinzufügte.
    Den stärksten Demokratisierungsschub löste die Revolution von 1905 nicht im eigentlichen Rußland, sondern im Großfürstentum Finnland aus. Das finnische Gegenstück zum Oktobermanifest war das Novembermanifest, mit dem die Regierung des Zaren auf einen vom Gros der Bevölkerung unterstützten Generalstreik der Arbeiter und Beamten Finnlands von Ende Oktober bis Anfang November 1905 reagierte. Sein Hauptziel war die Wiederherstellung der finnischen Autonomie, die Nikolaus II. mit dem Februarpatent von 1899 faktisch aufgekündigt hatte. Ebendieses ältere Patent, das daran anschließende Wehrgesetz von 1901 und einige andere Verordnungen wurden am 4. November aufgehoben. An den finnischen Senat, das wichtigste autonome Organ des Großfürstentums, erging der Auftrag, den Vorschlag einer neuen Reichstagsordnung auf der Grundlage des allgemeinen gleichen Wahlrechts und den Entwurf eines Grundrechtskatalogs vorzulegen und dem künftigen Parlament das Recht einzuräumen, die Gesetzlichkeit der Tätigkeit der Regierungsmitglieder zu kontrollieren.
    Das alte, ständisch gegliederte Parlament stimmte im Frühjahr 1906 unter dem Druck großer Demonstrationen einer entsprechenden Neuordnung zu. «Die Reform war die radikalste im damaligen Europa», urteilt der finnische Historiker Osmo Jussila. «Sie war ein Schritt, der direkt von der Vierständevertretung zu einem auf der Grundlage des allgemeinen und gleichen Wahlrechts gewählten Einkammerparlament führte. Auch die Frauen erhielten das aktive Wahlrecht, als erste in Europa und zweite (nach Neuseeland) in der Welt. Die Vertretungsbasis erweiterte sich durch diese Reform etwa auf das Zehnfache.»
    Das lutherische Finnland war, anders als das orthodoxe Rußland, ein Teil des alten Westens. Dasselbe galt zwar auch für die baltischen Ostseeprovinzen des russischen Reiches, für Estland, Livland und Kurland. Dort aber war die deutsche adlige Oberschicht, anders als der schwedischsprachige Adel Finnlands, nicht bereit, auf seine Privilegien kampflos zu verzichten und sich mit der einheimischen, estnischen oder lettischen Bevölkerung gegen die Autokratie des Zaren zu verbünden. Im Gegensatz zu Finnland kam es in Kurland, Livland und Estland daher nicht zu einer nationalen Einheitsfront für Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie. Finnland blieb 1905/06 ein Sonderfall.[ 24 ]
    Pionierland der Moderne: Amerika vor und nach der Jahrhundertwende
    Während Rußland sich im späten Jahrhundert anschickte, sein riesiges Territorium im östlichen Sibirien durch den Ausbau des Eisenbahnnetzes besser mit dem Altreich diesseits des Urals zu verbinden, widmeten sich die Vereinigten Staaten von Amerika nach dem Ende des Sezessionskrieges der Erschließung ihres «Great West». 1869 wurde die erste pazifische Eisenbahnlinie von Omaha nach San Francisco eröffnet, womit es eine transkontinentale Eisenbahnverbindung

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