Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
geheimes, aber nicht gleiches Wahlrecht schuf. In zahlreichen Landstädten und auf dem flachen Land wurden demokratische Wahlmännerlisten gewählt, in St. Petersburg und Moskau die der «Konstitutionellen Demokraten», nach den Anfangsbuchstaben beider Begriffe «Kadetten» genannt. Der Aufruf der Parteien der äußersten Linken zum Wahlboykott verhallte weithin ungehört, führte aber dahin, daß auch viele Arbeiter in Ermangelung sozialistischer Kandidaten für Demokraten stimmten. Die beherrschende Stellung in der ersten Duma hatten die «Kadetten» unter dem liberalen Historiker Paul Miljukow und dem Publizisten Peter Struve. Auf ihrer Rechten standen die konservativen «Oktobristen», auf ihrer Linken die «Trudowiki» (Werktätigen), eine Gruppe, in der sich radikale Abgeordnete zusammengeschlossen hatten.
Wenige Tage vor dem Zusammentritt der Duma erließ Nikolaus II. am 13. April 1906 die erste russische Verfassung, die «Staatsgrundgesetze». Sie gaben den «Untertanen» die im Oktobermanifest verkündeten Grundrechte, machten es ihnen aber auch zur «heiligen Pflicht», Thron und Vaterland zu verteidigen. Die Gesetzgebung übte der Zar im Verein mit dem teils gewählten, teils ernannten Reichsrat und der aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen, auf fünf Jahre gewählten Reichsduma aus. Die Duma konnte nur vom Zaren einberufen und aufgelöst werden. Im Hinblick auf die Ausgaben des Hofes und des Militärs verfügte die Duma nur über ein eingeschränktes Budgetrecht. Die Minister waren dem Zaren, nicht der Duma verantwortlich. In Zeiten einer Dumavakanz konnte der Ministerrat mit Notverordnungen nach Artikel 87 regieren. Gegen alle Gesetze hatte der Zar ein absolutes Vetorecht. Die Autokratie des Zaren war zwar nicht mehr unbeschränkt, aber sie wurde durch die Staatsgrundgesetze auch nicht beseitigt. In Artikel 4 hieß es vielmehr ausdrücklich: «Dem Kaiser von Allrußland gehört die Oberste Selbstherrschende Gewalt. Seiner Gewalt nicht nur aus Furcht, sondern auch aus Gewissenspflicht zu gehorchen, befiehlt Gott selbst.»
In einer ausführlichen Analyse der jüngsten innenpolitischen Entwicklung Rußlands hat Max Weber schon im Sommer 1906 auf den entscheidenden Anteil ausländischer Banken an der Konstitutionalisierung des Zarenreiches hingewiesen. Die Verfassunggebung war in der Tat auch ein Mittel, das durch den Krieg mit Japan geschwächte Rußland wieder kreditfähig zu machen. Für die Sicherheit des fremden Kapitals sollte aber nicht die Duma, sondern der Zar bürgen: Das ließ sich die Pariser Regierung im Frühjahr 1906 von Witte zusichern, ehe sie den Beschluß über eine neue Anleihe für Rußland faßte. Ob Nikolaus II. auch ohne Druck von außen genötigt gewesen wäre, eine Verfassung zu erlassen, oder nicht, er tat es jedenfalls mit größtem Widerstreben. Die Staatsgrundgesetze gaben der zarischen Exekutivgewalt ein derart starkes Gewicht, daß Weber schon im Titel seines Beitrags für das «Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik» von «Rußlands Übergang zum Scheinkonstitutionalismus» sprach. Das Oktobermanifest habe lediglich den «noch vorhandenen Schein der ‹Selbstherrschaft› im alten Sinn» zum Verschwinden gebracht und zur «definitiven Errichtung der zentralistischen Herrschaft der modernisierten Bürokratie» geführt.
Tatsächlich war die monarchische Gewalt im Zarenreich auch nach dem Erlaß der Verfassung konstitutionell sehr viel weniger eingebunden als im kaiserlichen Deutschland. Aber die Debatten in der Duma entfalteten ihre eigene Dynamik, und die Regierungen gewannen einen Einfluß auf den Zaren, den sie vor der Revolution von 1905 nicht gehabt hatten. Das sollte sich zeigen, als im Juli 1906, knapp drei Monate, nachdem Nikolaus II. den von ihm stets beargwöhnten Witte entlassen hatte, Innenminister Pjotr Arkadjewitsch Stolypin das Amt des Ministerpräsidenten übernahm.
An den Massenaktionen der russischen Revolution von 1905 hatten sich Arbeiter, Bauern, Soldaten, Studenten und Intellektuelle beteiligt, und das großstädtische Proletariat von St. Petersburg und Moskau mehr als jede andere Bevölkerungsgruppe. Dennoch kann man angesichts der breiten gesellschaftlichen Unterstützung des Umbruchs von einer «proletarischen Revolution» nicht sprechen. Die liberale Opposition gegen die Autokratie hatte ihren Rückhalt in Teilen des grundbesitzenden Adels und in städtischen Besitz- und Bildungsschichten, und ohne ihren Beitrag wäre es schwerlich
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