Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
vorangeschritten wäre. Die Konsequenz, die Tokio aus dieser Einschätzung zog, entsprach der Devise «Jetzt oder nie». In der Nacht vom 8. zum 9. Februar 1904 griff die japanische Flotte den russischen Hafen Port Arthur auf der Halbinsel Liaodong an. Damit begann der russisch-japanische Krieg von 1904/05, der erste Krieg zwischen einer europäischen und einer asiatischen Großmacht.
Als größtes Hindernis auf russischer Seite erwies sich die Länge des Seewegs nach Japan. Die Schwarzmeerflotte konnte, da die türkischen Meerengen nach wie vor für fremde Kriegsschiffe gesperrt waren, nicht auslaufen, und die Ostseeflotte mußte, da sie den britisch kontrollierten Suezkanal nicht passieren konnte, das Kap der Guten Hoffnung umsegeln. Bevor sie schließlich im Frühjahr 1905 den Kriegsschauplatz erreichte und dort die entscheidende Seeschlacht von Tsushima verlor, hatten die Japaner nach einer 156 Tage währenden Belagerung Port Arthur eingenommen und die dreiwöchige Materialschlacht um Mukden gewonnen. Rußland hatte noch nicht kapituliert, als der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Theodore Roosevelt, den beiden Kaiserreichen ein Vermittlungsangebot unterbreitete, das sie, Rußland freilich erst unter dem massiven Druck einer zeitweiligen französischen Finanzsperre, widerstrebend annahmen.
Angesichts der rußlandfeindlichen Stimmung in Amerika, die die zahlreichen Pogrome der jüngsten Vergangenheit, darunter das besonders blutige in Kischinew im April 1903, hervorgerufen hatten, war es eine Meisterleistung des russischen Unterhändlers, des 1903 als Finanzminister entlassenen Witte, daß er einen Meinungsumschwung in den USA herbeiführen konnte. Der Friede, der am 5. September 1905 in Portsmouth im Bundesstaat New Hampshire geschlossen wurde, fiel dank des mäßigenden Einflusses Amerikas auf Japan für Rußland einigermaßen günstig aus. Es mußte lediglich Korea Japan als Interessengebiet überlassen sowie ihm den Südteil von Sachalin und Liaodong mit Port Arthur abtreten. Eine weitere Bedingung des Vertrages, die Räumung der Mandschurei, wurde weder von der russischen noch von der japanischen Seite erfüllt.
Der erste Krieg, in dem eine nichteuropäische Großmacht über eine europäische siegte, war noch nicht beendet, als sich in Rußland die Wut der Massen Bahn brach und binnen kurzem in eine Revolution umschlug – die erste aus einem unglücklich verlaufenden Krieg hervorgegangene Revolution im Europa des 20. Jahrhunderts und die zweite überhaupt, wenn man denn die Pariser Kommune von 1871 als die erste Revolution dieses Typs betrachten will. Ende 1904 begann in der Hauptstadt ein Streik, der von der «Versammlung russischer Fabrikarbeiter von St. Petersburg», einer von dem Gefängnispriester Georgij Apollonowitsch Gapon ursprünglich in patriotischer Absicht gegründeten Organisation, ausging. Die Streikenden forderten in einer Petition an den Zaren Mitbestimmung für die Arbeiter, Land für die Bauern und eine Verfassunggebende Versammlung. Am 22. Januar 1905, dem «Blutsonntag», formierte sich, geführt von Gapron, ein Demonstrationszug von etwa 100.000 Menschen, der zum Winterpalais zog, um Nikolaus die Petition zu überreichen. Die Schloßwache schoß scharf in die unbewaffnete Menge; rund 150 Menschen verloren ihr Leben; die Zahl der Verwundeten lag sehr viel höher.
Der «Blutsonntag» wurde zum Beginn der ersten russischen Revolution. Von St. Petersburg griff sie bald auf andere Städte und große Teile des Landes über. Am 29. Januar erlebte Warschau seinen «Blutsonntag». Doch erst nach der Ermordung des Moskauer Generalgouverneurs, des Großfürsten Sergej Alexandrowitsch, eines Onkels des Zaren, durch einen Sozialrevolutionär am 17. Februar zeigte sich Nikolaus II. zu einigen halbherzigen Zugeständnissen bereit. Am 3. März kündigte er, entsprechend einem Vorschlag von Innenminister Bulygin, die Wahl einer beratenden, aber nicht beschließenden Duma an; im April erging ein Toleranzedikt, das nichtorthodoxen Untertanen gewisse Erleichterungen brachte; im August wurde nach längeren Beratungen ein Wahlrecht verkündigt, das ständisch gehalten war: Es privilegierte den Adel gegenüber dem besitzenden Bürgertum und machte die Bauern zur relativ größten Wählergruppe, während Arbeiter und Angehörige der Intelligenzija kein Stimmrecht erhielten. Die empörte Ablehnung dieser Regelung durch die «Semstwo-Bewegung», die Liberalen und die Linke aller Schattierungen
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