Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
revolutionäre Lösung der Agrarfrage durch entschädigungslose Enteignung des Grundbesitzes und individuelle Nutzung des Bodens unter kollektiver Kontrolle. An die terroristische Tradition der Narodniki knüpfte eine innerparteiliche Kampfgruppe an. Auf ihr Konto gingen mehrere Attentate, denen 1902 und 1904 zwei Innenminister, Sipjagin und Plehwe, zum Opfer fielen.
In der Arbeiterschaft der industriellen Zentren begannen in diesen Jahren die Parolen der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei allmählich zu wirken. Obwohl Streiks verboten waren, kam es seit 1902 immer wieder zu Ausständen. Beim größten, dem von Baku im Jahre 1904, trat erstmals ein Anhänger der Bolschewiki als Agitator und Organisator auf, dem es kurz zuvor gelungen war, aus der Verbannung in Sibirien zu entfliehen: Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili, bekannter unter seinem Kampfnamen Stalin. Die Forderungen der Streikenden beschränkten sich nicht auf den wirtschaftlichen und sozialen Bereich, sondern zielten zunehmend auch auf politische Veränderungen. Die von der Ochrana aufgezogenen patriotischen Arbeitervereine erwiesen sich nicht als zuverlässige Stützen des Regimes: Sie wurden vielerorts von den Sozialdemokraten unterwandert. Die Regierung ließ daraufhin die Arbeitervereine fallen und schickte ihren «Erfinder», den Moskauer Leiter der Ochrana, Subatow, in die Verbannung.
Die Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen reichte um die Jahrhundertwende weit über das industrielle Proletariat und Teile der Bauernschaft hinaus. In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre setzte die «Semstwo-Bewegung» ein, getragen von den gewählten Vertretern, den Beamten und Angestellten, dem sogenannten «dritten Element», der unter Nikolaus I. geschaffenen Kreisversammlungen. Aus ihren Reihen wurde immer vernehmlicher der Ruf nach einer gewählten Volksvertretung und einer Verfassung laut. Da der Zar und seine Regierung diese Forderungen strikt ablehnten, verlagerte sich ein Teil der Semstwo-Opposition ins Ausland. Seit 1902 erschien in Stuttgart die von dem Publizisten Peter Struve, einem ehemaligen Marxisten, herausgegebene Zeitschrift «Die Befreiung» (Oswoboschdenija), die für ein liberales, konstitutionell regiertes Rußland eintrat und dort zum Organ des 1902 entstandenen, zunächst geheim operierenden «Bundes der Befreiung» (Sojus oswoboschdenija) wurde.
Der neue Bund wurde bald zu einem Sammelbecken der oppositionellen Intelligenz. Seine wichtigste Aufgabe sah er im Aufbau von Berufsverbänden, unter anderem von Lehrern, Rechtsanwälten, Ingenieuren, Kontor- und Eisenbahnangestellten, und ihrer Zusammenfassung in einem «Bund der Bünde» (Sojus sojusow), der dann im Mai 1905 tatsächlich gegründet wurde. Im Spätherbst 1904 organisierte der Bund der Befreiung eine landesweite Bankettkampagne nach dem Pariser Vorbild von 1847/48. Ihr Höhepunkt war eine Konferenz der Vertreter von Semstwos aus ganz Rußland in St. Petersburg, die, da ihnen eine öffentliche Kundgebung nicht gestattet wurde, in nichtöffentlicher Sitzung einen Katalog liberaler Forderungen verabschiedeten. Dazu gehörten die Garantie von Grundrechten wie der Gewissens- und Redefreiheit, die Gleichheit aller Russen vor dem Gesetz, erweiterte Selbstverwaltung und die Wahl einer Verfassunggebenden Versammlung, mindestens aber die Hinzuziehung von gewählten Vertretern zu dem vom Zaren berufenen Reichsrat. Die Ablehnung durch Nikolaus II. folgte auf den Fuß. Zar und Regierung mußten aber damit rechnen, daß der junge russische Liberalismus sich bei passender Gelegenheit erneut zu Wort melden würde.
Daß eine solche Gelegenheit sich schon bald ergab, lag an der schweren Krise, in die Rußland kurz darauf auf Grund seiner imperialistischen Politik im Fernen Osten geriet. 1891 hatte der Bau der Transsibirischen Eisenbahn begonnen: eine Zäsur in der Geschichte der Durchdringung und Kolonisierung des riesigen Gebietes zwischen Ural und Bering-Straße. Drei Jahre später begann das industriell erstarkte Japan einen Krieg mit China, bei dem es vor allem um die Herrschaft über Korea ging, das seit dem 17. Jahrhundert unter chinesischer Oberhoheit stand. Der Krieg endete mit einer schweren Niederlage Chinas. Im Frieden von Shimonoseki mußte China die Unabhängigkeit Koreas anerkennen und Taiwan und die Pescadores-Inseln an Japan abtreten. China war auch bereit, die Halbinsel Liaodong mit den Häfen Port Arthur und Dairen der Siegermacht zu überlassen,
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