Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
verlangt. Tags darauf trat der Ministerpräsident zurück.
Mit der Sprachenpolitik Badenis war auch sein Versuch gescheitert, zu einem neuen Ausgleich der Steueranteile der beiden Reichshälften zu gelangen: Der Rücktritt der Regierung verhinderte die parlamentarische Beratung der Vorlage. Badenis Sprachverordnungen wurden durch das erste der folgenden, kurzlebigen Kabinette abgemildert, durch das dritte 1899 aufgehoben. Infolgedessen versagten sich die slawischen Abgeordneten nun dem Ausgleich mit Ungarn; dieser wurde ebenso wie der Haushalt für 1900 durch Notverordnungen nach § 14 des Staatsgrundgesetzes über die Reichsvertretung von 1867 vorläufig in Kraft gesetzt. Erst eine Regierung unter dem parteilosen hohen Beamten Ernest von Koerber, die ihr Amt in Januar 1900 antrat, konnte eine gewisse Beruhigung der nationalen Gegensätze erreichen und sich bis Ende 1904 an der Macht behaupten. Der Etat für 1902 wurde, nachdem die Tschechen auf Grund wirtschaftlicher Zugeständnisse Wiens ihre Obstruktion aufgegeben hatten, wieder auf parlamentarischem Weg verabschiedet. Der Regierung kam auch zustatten, daß die Alldeutschen, die bei den Wahlen von 1901 21 Sitze erlangt hatten, sich 1902 spalteten: in die Anhänger Schönerers, der sich Ende der neunziger Jahre zum Führer einer für den Austritt aus der katholischen Kirche werbenden «Los-von-Rom»-Bewegung aufgeschwungen hatte, und in die seines bisherigen Parteigängers Karl Hermann Wolf, die sich fortan «Deutsch-Radikale» nannten.
Zwei Parteien hatten in der Zwischenzeit begonnen, sich zu echten Massenbewegungen zu entwickeln: die Christlichsozialen und die Sozialdemokraten. Während die ersteren sich immer mehr als konservative Volkspartei präsentierten, wuchs den letzteren, obgleich eher ungewollt, das Profil einer reichserhaltenden Kraft zu: ein Eindruck, dem auch Lueger mit seinem Spottwort von der «k. k. privilegierten Sozialdemokratie» Tribut zollte. Zur Zeit der Badeni-Krise hatte die Partei Victor Adlers sich noch an der parlamentarischen Obstruktionspolitik der Rechten beteiligt, damit aber ihre nichtdeutschen Anhänger nachhaltig irritiert. Diese Erfahrung ließ die Einsicht reifen, daß die Sozialdemokratie um eine Stellungnahme zum nationalen Problem nicht länger herumkam und sich selbst einer nationalen Föderalisierung unterziehen mußte. Die Christlichsozialen waren eine rein deutsche Partei, die Sozialdemokraten hingegen eine Vielvölkerpartei. Als solche erlebten sie in sich die Probleme des Habsburgerreiches; sie mußten, wenn sie eine Partei bleiben wollten, eine Art von «Stellvertreterdebatte» führen und nach Lösungen suchen, die für die cisleithanische Reichshälfte der Donaumonarchie wegweisend sein konnten.
Das Ergebnis intensiver Diskussionen, namentlich zwischen deutschen, tschechischen und slowenischen Sozialdemokraten, war das Brünner Nationalitätenprogramm vom September 1899. Es bezeichnete die nationalen Wirren in Österreich als Lähmung jeden politischen Fortschritts und jeder kulturellen Entwicklung der Völker und nannte die «endliche Regelung der Nationalitäten- und Sprachenfrage im Sinne des gleichen Rechts und der Gleichberechtigung und Vernunft … vor allem eine kulturelle Forderung, daher im Lebensinteresse des Proletariats gelegen». Eine Lösung der Nationalitäten- und Sprachenfrage sei aber nur möglich «in einem wahrhaft demokratischen Gemeinwesen, das auf das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht gegründet ist, in dem alle feudalen Privilegien im Staate und in den Ländern beseitigt sind». Das Programm sagte dem bürokratisch-staatlichen Zentralismus den Kampf an und forderte die Umwandlung Österreichs in einen «demokratischen Nationalitäten-Bundesstaat», die Schaffung von «national abgegrenzten Selbstverwaltungskörpern» und autonomen nationalen Verbänden, in denen die «Selbstverwaltungsgebiete ein und derselben Nation» zusammenzufassen waren: eine Vorstellung, die von fern an die (folgenlos gebliebenen) Pläne zum föderalistischen Umbau des Habsburgerreiches erinnerte, wie sie ein halbes Jahrhundert zuvor, in der Endphase der Revolution von 1848/49, von dem tschechischen Historiker Jan Palacky und seinen Mitstreitern auf dem Reichstag zu Kremsier entwickelt worden waren.
Vieles am Brünner Nationalitätenprogramm blieb unklar: Das galt für die Frage, wie das Verhältnis von nationaler Autonomie und territorialer Selbstverwaltung in Gebieten ethnischer Gemengelage aussehen
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