Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
sollte, und für das noch grundlegendere Problem, wie die Sozialdemokratie zu reagieren gedachte, wenn Nationen ihre Selbstbestimmung bis zur vollen revolutionären Konsequenz, der staatlichen Unabhängigkeit, voranzutreiben entschlossen waren. Auch die ausführlichen schriftlichen Darlegungen des «Austromarxisten» Karl Renner über die Unterschiede zwischen dem Territorialprinzip und dem Personalprinzip, von denen das erste der politischen, das zweite der nationalen Demokratie zugrunde liege, gaben darauf keine Antwort (es sei denn die indirekte, daß der Führungsanspruch der DeutschÖsterreicher kulturell begründet war). Das Brünner Programm klammerte viele umstrittene Fragen wie die Schul-, die Amtssprachen- und die Wirtschaftspolitik aus, und bereits auf dem Parteitag selbst wurde der Text von unterschiedlichen nationalen Gruppen unterschiedlich interpretiert. Die Führer der österreichischen Sozialdemokratie durften aus der einstimmigen Annahme der Beschlußvorlage nicht folgern, daß die Arbeiter des Vielvölkerstaates weitergehenden nationalen Bestrebungen eine Absage erteilt hatten.
Die amtliche Politik folgte ähnlichen Ansätzen wie die Sozialdemokratie, als sie 1905 den «Mährischen Ausgleich» zuwege brachte: Gemeinden und Städte konnten ihre Amts- und Geschäftssprache selbständig bestimmten; das Schulwesen war den nationalen Verhältnissen entsprechend zu ordnen; auf der Grundlage nationaler Kataster wurden die Wahlbezirke neu eingeteilt. ähnliche Reformen fanden 1910 in der Bukowina statt. Beide Gebiete waren überwiegend ländlich geprägt, so daß die nationalen Grundstücksverzeichnisse eine hohe Aussagekraft besaßen. Anders stand es in industrialisierten und urbanisierten Regionen: Die soziale Fluktuation machte hier eine vergleichbare Wahlkreiseinteilung unmöglich. Der «Mährische Ausgleich» konnte folglich nicht zum Modell für das Gesamtreich werden.
Die Reform des Wahlrechts rückte im Herbst 1905 erneut auf die Tagesordnung: Angeregt durch die revolutionären Ereignisse in Rußland, riefen die Sozialdemokraten ihre Anhänger in allen größeren Städten der cisleithanischen Reichshälfte zu Massendemonstrationen für die Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts auf. Kaiser Franz Joseph und die Regierung von Baron Gautsch, dem Nachfolger Ernest von Koerbers, zeigten sich zur Erfüllung dieser Forderung bereit, wobei der greise Monarch geradezu auf eine Stärkung der beiden großen reichsfreundlichen Parteien, der Christlichsozialen und der Sozialdemokraten, und die Schwächung der nationalistischen Kräfte setzte.
Über der Verteilung der Abgeordnetensitze auf die Nationen kam es jedoch zu heftigen Auseinandersetzungen, über denen 1906 zwei Regierungen stürzten. Die bürgerlichen deutschen Parteien wollten nicht nur den deutschen Anteil an der cisleithanischen Bevölkerung, nämlich 35 Prozent, sondern auch ihr sehr viel höheres Steueraufkommen, 63 Prozent, berücksichtigt wissen und erhielten am Ende tatsächlich 43 Prozent der Sitze. ähnlich und ebenfalls erfolgreich argumentierten die Italiener gegenüber den Slowenen und die Polen in Galizien und die Rumänen in der Bukowina gegenüber den Ruthenen. Um den großen Erfolg in der Wahlrechtsfrage an die Fahnen der Sozialdemokratie heften zu können, verhielt sich Victor Adler in Verhandlungen mit dem neuen Ministerpräsidenten, dem Freiherrn Max Wladimir von Beck, ausgesprochen kompromißbereit. Anfang 1907 war er am Ziel: Nachdem das Abgeordnetenhaus und das Herrenhaus die Vorlage über die Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts verabschiedet hatten, unterzeichnete am 27. Januar Kaiser Franz Joseph das Gesetz. Vier Tage später wurde das alte, aus fünf Kurien bestehende Abgeordnetenhaus aufgelöst.
Die Wahlen vom Mai 1907, die ersten, bei denen der Reichsrat nach dem neuen Wahlrecht gewählt wurde, brachten den im Deutschen Nationalverband vereinigten deutschliberalen und deutschnationalen Parteien 90 Sitze (darunter 13 von den Deutsch-Radikalen und 3 von den «Schönerianern») und den Christlichsozialen 66 Abgeordnete ein, die sich kurz darauf mit den 30 Parlamentariern der Katholischen Volkspartei zur Christlichsozialen Reichspartei zusammenschlossen. Die Sozialdemokraten kamen auf 87 Abgeordnete, und zwar 50 Deutsche, 23 Tschechen, 7 Polen, 5 Rumänen und 2 Ruthenen. Der Begriff «Sozialdemokraten» spiegelte indes eine Einheit vor, die es in
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