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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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Wirklichkeit schon gar nicht mehr gab. Die tschechische Partei hatte sich unter dem wachsenden Druck nationalistischer Kräfte organisatorisch verselbständigt, und dasselbe galt auch für die polnische Partei.
    In beiden Fällen wirkte die russische Revolution von 1905 als Katalysator der nationalen Emanzipation: Je weniger das Zarenreich noch als Vormacht der europäischen Reaktion erschien, desto schwächer wurde das Bedürfnis nach einem österreichischen Schutzdach für die Westslawen empfunden. Die Folge war eine Welle des Neopanslawismus. In Böhmen und Mähren waren mittlerweile tschechische «Nationalsozialisten» außerhalb der Sozialdemokratie aktiv geworden, die über die Parteipresse in die sozialdemokratische Partei und in die Gewerkschaften hineinwirkten und bald auch eine nationalistische Reaktion unter sudetendeutschen Arbeitern auslösten: 1904 wurde in Trautenau eine Deutsche Arbeiterpartei gegründet, die bei den Wahlen von 1911 drei Abgeordnete in den Reichsrat entsenden konnte und sich sieben Jahre später, im Mai 1918, in Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei umbenannte. In Polen begannen die Sozialdemokraten der drei Teilungsgebiete enger miteinander zusammenzuarbeiten, wobei die Parteivorsitzenden Ignazy Daszynski in Galizien und Josef Pilsudski in Russisch-Polen besonders hervortraten. Gleichzeitig lockerten sich die Beziehungen zwischen den sozialdemokratischen Parteien im österreichischen und im preußischen Teilungsgebiet auf der einen und denen in Wien und Berlin auf der anderen Seite.
    Im November 1908, als Österreich-Ungarn wegen der noch zu erörternden Annexion von Bosnien und Herzegowina im Mittelpunkt einer internationalen Krise stand, wurde Ministerpräsident Beck wegen einer kulturpolitischen Streitfrage von den Christsozialen im Zusammenspiel mit dem Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand gestürzt und durch Richard Freiherr von Bienerth-Schmerling ersetzt. Franz Ferdinand, dem Sohn von Franz Josephs jüngerem Bruder Karl Ludwig, war die Rolle des Thronfolgers nach dem Selbstmord des Kronprinzen Rudolf am 30. Januar 1889 im Jagdschloß Mayerling zugefallen. Das persönliche Verhältnis zwischen Kaiser und Erzherzog war schlecht, was auch an politischen Differenzen lag: Franz Ferdinand setzte sich, beraten vom sogenannten «Belvedere-Kreis», für die überwindung des österreichischungarischen Dualismus zugunsten eines deutsch-ungarisch-slawischen «Trialismus» ein, wozu auch die Schaffung eines selbständigen südslawischen Staates innerhalb der Donaumonarchie gehören sollte.
    Die politischen Chancen dieses Projekts verminderten sich, als bei den Reichsratswahlen von 1911 die großdeutschen Gruppen mit 104 Mandaten einen großen Erfolg gegenüber den Christlichsozialen und den deutschen Sozialdemokraten errangen, die auf 74, beziehungsweise 44 Sitze kamen. Im Juli 1913 spitzte sich der Konflikt zwischen Deutschen und Tschechen so zu, daß sich die Regierung des seit November 1911 amtierenden Ministerpräsidenten Karl Graf Stürgkh entschloß, die böhmische Landesverfassung wegen Arbeitsunfähigkeit des Landtags zu sistieren. Die Verhandlungen über einen deutsch-tschechischen Ausgleich, die im Herbst 1913 begannen und einen durchaus positiven Verlauf nahmen, wurden von Stürgkh nur halbherzig unterstützt. Als die Obstruktion der tschechischen Agrarier auch den Reichsrat arbeitsunfähig machte, wurde er am 16. März 1914 vertagt. Das Kabinett regierte fortan mit Hilfe von Notverordnungen.
    Während Cisleithanien seit Ende des «Eisernen Ringes» eine Abfolge innerer Krisen erlebte, erhöhte sich innerhalb der habsburgischen Gesamtmonarchie das politische Gewicht Transleithaniens. Länger als in Österreich waren nach dem Ausgleich von 1867 die adligen und großbürgerlichen Liberalen in Ungarn an der Macht geblieben, von 1875 bis 1890 unter Kálman von Tisza als Ministerpräsidenten. Seit dem Sturz von Tisza, ausgelöst durch heftige parlamentarische Auseinandersetzungen um die Stellung Ungarns im Heerwesen der Doppelmonarchie und anschließende Zusammenstöße zwischen Polizei und Demonstranten auf den Straßen von Budapest, wuchs auch im Reich der Stephanskrone die Anziehungskraft radikal nationalistischer und antisemitischer Strömungen stark an.
    Bereits 1878, zur Zeit des Berliner Kongresses, hatte der liberale Abgeordnete Gyözö Istóczy im Parlament hypothetische Erwägungen über die Errichtung eines jüdischen Staates in Palästina angestellt und im

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