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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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Geldstrafe, verurteilt: der mitangeklagte Geschäftsführer der «Aurore», Alexandre Perrenx, erhielt eine Strafe von vier Monaten Gefängnis und ebenfalls 3000 Francs. In das Urteil floß der «faux Henry» ein, der die Schuld von Dreyfus angeblich unwiderlegbar beweisen sollte. Das von den Anwälten der Angeklagten angestrengte Berufungsverfahren begann am 23. Mai 1898. Am Abend des 18. Juli, wenige Stunden nachdem ihn das Schwurgericht in Versailles in Abwesenheit verurteilt hatte, floh Zola nach England. Am gleichen Tag legte Oberst Henry vor einem Untersuchungsrichter ein halbes Geständnis ab. Am 30. August wurde er verhaftet; am Tag darauf wurde er in seiner Zelle in der Festung Mont-Valérien tot aufgefunden; er hatte sich mit einem Rasiermesser die Kehle durchgeschnitten. Esterhazy, inzwischen wegen «schlechter Führung» aus der Armee entlassen, floh am gleichen Tag ins Ausland, zuerst nach Belgien und dann nach England. Ebenfalls am 31. August reichten zwei Generäle, die an der Vertuschung des Skandals beteiligt waren, Boisdeffre und de Pellieux, ihre Rücktrittsgesuche ein.
    Aus den Kammerwahlen vom Mai 1898 waren die bürgerliche und die sozialistische Linke gestärkt hervorgegangen, die gemäßigten Radicaux blieben aber die stärkste Fraktion und stellten auch den neuen Ministerpräsidenten Henri Brisson, der, wie so viele Regierungschefs der Dritten Republik, nur wenige Monate im Amt blieb. Am 26. September, sechs Tage nachdem Kriegsminister Chanoine den (inzwischen aus der Armee entlassenen und verhafteten) Oberst Picquart vor ein Kriegsgericht gestellt hatte, beschloß der Ministerrat, ein Gesuch von Lucie Dreyfus, der Ehefrau Alfreds, um Revision des Prozesses gegen ihren Gatten an den Kassationshof weiterzuleiten. Am 29. Oktober beschloß die Strafkammer dieses Gerichts eine neue Untersuchung des Falles Dreyfus. Die unmittelbare Folge war der Sturz der Regierung Brisson. Unter dem Nachfolgekabinett Dupuy spaltete sich die politische Mitte Anfang 1899 in «Dreyfusards» und «Antidreyfusards». Zu den letzteren, der Mehrheit, gehörten der frühere Ministerpräsident Félix Méline und der amtierende Regierungschef Charles Dupuy, zu den ersteren Pierre Marie Waldeck-Rousseau, die Abgeordneten Raymond Poincaré und Louis Barthou sowie der Senatspräsident émile Loubet, der im Februar 1899 als Nachfolger des verstorbenen Félix Faure zum Präsidenten der Republik gewählt wurde.
    Am 3. Juni 1899 hob der Kassationshof die Verurteilung des Hauptmanns Dreyfus auf und verwies den Fall an das Kriegsgericht in Rennes zurück. Die im Februar 1898 gegründete Ligue française pour la défense des droits de l’homme et du citoyen, der sich neben vielen anderen Intellektuellen die berühmten Schriftsteller Anatole France, Marcel Proust, Charles Péguy und Maurice Maeterlinck sowie die Historiker Gabriel Monod und Ernest Lavisse anschlossen, feierte die Entscheidung als Sieg, während die Gegenorganisation der Antidreyfusards, die im Dezember 1898 entstandene Ligue de la patrie française und Déroulèdes Ligue des patriotes Stimmung gegen die Entscheidung der unabhängigen Richter machten. Am 4. Juni, einen Tag vor dem Urteilsspruch, wurde Präsident Loubet während eines Pferderennens von einem Antidreyfusard tätlich angegriffen; am Tag darauf kehrte Zola aus seinem englischen Exil nach Frankreich zurück; am 11. Juni veranstalteten die Sozialisten eine Massendemonstration gegen die militante Rechte. Am Tag danach trat die Regierung Dupuy, die aus ihren Sympathien für die Antidreyfusards keinen Hehl gemacht hatte, zurück.
    Im neuen Kabinett des entschiedenen Dreyfusards Waldeck-Rousseau, mit dem die bis 1914 währende Phase der «République radicale» begann, übernahm der Regierungschef selbst die Leitung des Innenministeriums. Das Amt des Außenministers übertrug er dem energischen Théophile Delcassé, einem bekennenden «Revanchisten». Finanzminister wurde Joseph Caillaux, eine der Schlüsselfiguren der Dritten Republik. Zum Kriegsminister wurde der Marquis de Galliffet ernannt, der 1871 den Aufstand der Pariser Kommune niedergeschlagen hatte, jetzt aber als Republikaner galt. Ebendiese Personalie war einer der Gründe, weshalb die orthodoxen Marxisten innerhalb der vielfach gespaltenen sozialistischen Bewegung um Jules Guesde mit äußerster Empörung auf die Tatsache reagierten, daß der neuen Regierung erstmals auch ein Sozialist angehörte: Handelsminister Alexandre Millerand von der Gruppe

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