Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
«Socialistes indépendants», deren Mitglied damals auch Jean Jaurès war. In der Vertrauensabstimmung am 28. Juni stimmte etwa die Hälfte der Sozialisten für die Regierung; die andere, die in der Dreyfus-Affäre einen Streit innerhalb der Bourgeoisie sah, stimmte mit Nein.
Zwei Tage später traf Alfred Dreyfus nach viereinhalb Jahren Deportiertenleben auf der Teufelsinsel wieder in Frankreich ein. Am 7. August begann sein zweiter Prozeß vor dem Kriegsgericht in Rennes. Mehrere ehemalige Kriegsminister mit und ohne Generalsrang versuchten als Zeugen erneut, Dreyfus als schuldig hinzustellen, und sie hatten damit Erfolg. Am 8. September 1899 erging ein Urteil, das man nicht anders als «absurd» nennen kann: Dreyfus wurde mit 5 gegen 2 Stimmen schuldig gesprochen und zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt; die Degradierung wurde bestätigt. Gleichzeitig billigte ihm das Gericht unklar bleibende mildernde Umstände zu. Informell wurde dem Angeklagten auf Veranlassung von Ministerpräsidenten Waldeck-Rousseau ein «Deal» angeboten: Begnadigung, wenn er auf eine Berufung verzichtete. Von seinem Bruder Mathieu gedrängt, der sich zuvor mit Georges Clemenceau und Jean Jaurès beraten hatte, ging Alfred Dreyfus widerstrebend auf das Angebot ein. Am 19. September 1899 unterzeichnete Präsident Loubet das Begnadigungsgesuch, wobei er zur Begründung auf ein ärztliches Gutachten verwies, das den schlechten Gesundheitszustand des Häftlings betonte.
Ein Teil der Dreyfusards war von dem faulen Kompromiß, einem Tribut an die militärische Auffassung von Staatsräson, tief enttäuscht, ein anderer fand sich, die Gefahr des Bürgerkriegs vor Augen, mit Schuldspruch und Begnadigung ab. Die Antidreyfusards waren ähnlich gespalten: Die radikalen Antisemiten zeigten sich über den Gnadenakt entrüstet; die gemäßigten Nationalisten akzeptierten ihn, da der Armee die schlimmste Bloßstellung erspart worden war.
Tatsächlich war die Affäre noch keineswegs beendet, auch nicht durch ein Amnestiegesetz für alle im Zusammenhang mit dem Fall Dreyfus begangenen Straftaten. Im April 1903 leitete Jaurès mit zwei Reden in der Deputiertenkammer, in denen er weitere Fälschungen des Nachrichtendienstes des Generalstabs enthüllte, die Wiederaufnahme des Verfahrens ein. Eine vom Kriegsminister des Kabinetts Combes, General André, angeordnete Untersuchung erbrachte erdrückende Beweise gegen den Generalstab. Ende November 1903 erhielt Justizminister Ernest Vallé die Vollmacht des Ministerrats, die einschlägigen Akten dem Kassationshof zuzuleiten. Dieser hob am 25. Dezember das Urteil des Kriegsgerichts in Rennes auf. Am 6. April 1904 nahm die Strafkammer des Gerichts ihre Untersuchungen auf. Ihr Urteil erging nach mehrfachen, politisch bedingten Verzögerungen am 12. Juli 1906. Es annullierte den Schuldspruch vom September 1899 und rehabilitierte Dreyfus in vollem Umfang. Tags darauf wurden Oberst Picquart mit dem Rang eines Brigadegenerals und Dreyfus mit dem Rang eines Majors reaktiviert. Drei Tage später erfolgte die Ernennung von Dreyfus zum Ritter der Ehrenlegion. Picquart wurde im Oktober 1906 Kriegsminister im ersten Kabinett Clemenceau.
Die Dreyfus-Affäre war nach dem Urteil des Historikers Charles Bloch die «schwerste, aber auch die letzte große Krise der beginnenden Dritten Republik» – die Krise, mit der die «Epoche der Geburtswehen und Konsolidierung» zu Ende ging. «Die Anhänger der parlamentarischen Demokratie hatten einen völligen Sieg errungen, und die republikanische Staatsform wurde bis zur Mitte der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts nicht mehr in Frage gestellt.» Bloch vergleicht émile Zolas «J’accuse» mit Voltaires «Traktat über die Toleranz» von 1763, mit dem der Philosoph gegen einen tödlichen Justizirrtum, die Hinrichtung des protestantischen Kaufmanns Jean Calas, protestierte. «Zola und seine Helfer setzten damit die große Tradition der französischen Intellektuellen fort … im Sinne der Aufklärung, der Prinzipien von 1789 und des weltlichen Humanismus des 19. Jahrhunderts. Nicht viele Länder können auf ähnliche Fälle bei sich hinweisen. In verschiedenen Staaten sind – früher oder später – Rechtsbeugungen und sogar Justizmorde vorgekommen, häufig mit weniger gefährlichem Hintergrund, ohne daß sich die meisten geistigen Repräsentanten der Nation erhoben und der Gerechtigkeit zum Sieg verhalfen. In diesem Sinne muß der Ausgang der Dreyfus-Affäre als ein Ruhmesblatt in
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