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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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deutschen Botschaft die französische Gegenspionage den Brief entwendet hatte. Als Urheber vermutete man im Generalstab einen dort tätigen Artillerieoffizier; ein graphologisches Gutachten lenkte den Verdacht auf den Hauptmann Alfred Dreyfus, der einer jüdischen Familie aus dem Elsaß entstammte, die 1871 für Frankreich optiert hatte. Am 15. Oktober wurde Dreyfus verhaftet. Drumonts «Libre Parole» erfuhr durch Henry von der Angelegenheit; die Zeitung stempelte Dreyfus sogleich zum Verräter. Der Generalstabsoffizier, der die Untersuchung gegen Dreyfus führte, Oberst du Paty de Clam, sandte dem Kriegsminister am 31. Oktober ein Dossier, das trotz abfälliger Äußerungen über Dreyfus zu keinem abschließenden Urteil kam. Es enthielt aber neben teils belanglosen, teils von Henry manipulierten Dokumenten einen Brief Schwartzkoppens an seinen italienischen Kollegen Panizzardi, worin von «ce (sic!) canaille D.» die Rede war: eine Formulierung, die auf Dreyfus deuten konnte, aber nicht mußte. (Sie bezog sich tatsächlich, wie sich später herausstellte, auf einen Agenten namens Dubois.)
    Kriegsminister Mercier, der als Republikaner galt und heftigen Angriffen der nationalistischen Rechten ausgesetzt war, drängte nach der Lektüre des Dossiers auf eine sofortige Verurteilung von Dreyfus. Der Prozeß vor dem Kriegsgericht in Rennes fand im Dezember 1894 unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Oberst Henry kam als Zeuge ausführlich zu Wort, konnte aber keine stichhaltigen Beweise vorbringen. Daraufhin veranlaßte Mercier, daß den Richtern, aber nicht der Verteidigung das geheime Dossier mit dem Brief Schwartzkoppens zur Kenntnis gebracht wurde. Die Folge war ein einstimmig gefaßter Schuldspruch. Dreyfus wurde am 22. Dezember 1894 zu lebenslänglicher Deportation verurteilt und am 5. Januar 1895 im Hof der Pariser école militaire vor einer feindselig johlenden Menge öffentlich degradiert. Anschließend erfolgte der Transport auf die Teufelsinsel bei Cayenne vor der Küste von Französisch-Guayana.
    Über ein Jahr später, im März 1896, gelangte der neue Leiter des Nachrichtendienstes des Generalstabs, Oberst Georges Picquart, in den Besitz eines Briefes, den Schwartzkoppen seiner Maitresse diktiert hatte. Das Schreiben, das «petit bleu», war an den Major Esterhazy gerichtet und brachte Picquart binnen weniger Wochen zu der zutreffenden Erkenntnis, daß nicht Dreyfus, sondern Esterhazy das «Bordereau» geschrieben hatte (ob aus eigenem Antrieb oder im Auftrag höher gestellter Personen, ist bis heute ungeklärt). Von Hause ähnlich antisemitisch eingestellt wie sein Vorgänger Sandherr und Oberst Henry, war Picquart gleichwohl entschlossen, die Unschuld von Dreyfus zu beweisen und den tatsächlichen Verräter zur Verantwortung zu ziehen. Der Generalstabschef und sein Stellvertreter, die Generäle Boisdeffre und Gouse, die beide an der Verurteilung von Dreyfus maßgeblich beteiligt gewesen waren, fürchteten jedoch die eigene Bloßstellung ebenso wie die der Armee und befahlen Picquart, über seine Entdeckung zu schweigen. Als Picquart das ablehnte, wurde er nach Tunesien versetzt. Seine Nachfolge trat General Gouse an. Henry verblieb in seiner Position. Am 1. November 1896 hatte er eine Fälschung produziert, die als «faux Henry» in die Geschichte eingehen sollte: ein angeblicher Brief Panizzardis, in dem dieser seinen deutschen Kollegen Schwartzkoppen beschwor, die Beziehungen zu dem Juden Dreyfus ebenso abzuleugnen, wie er, Panizzardi, dies tun werde.
    Im Juni 1897 nutzte Picquart einen Heimaturlaub, um Louis Leblois, einen mit ihm befreundeten Rechtsanwalt, über die Affäre in Kenntnis zu setzen. Leblois nahm Verbindung mit dem Vizepräsidenten des Senats, dem aus dem Elsaß stammenden Auguste Scheurer-Kestner, auf, der sich seinerseits an Kriegsminister Jean-Baptiste Billot, Ministerpräsident Jules Méline und den Präsidenten der Republik, Félix Faure, wandte. Alle rieten ihm dringend, aus Gründen der Staatsräson zu schweigen. Scheurer-Kestner hielt sich nicht an diese Empfehlung, sondern informierte Mathieu Dreyfus, der seit dem Urteil vom Dezember 1894, unterstützt von einigen, vorwiegend jüdischen Publizisten, an der Rehabilitierung seines Bruders arbeitete. Gemäß der Empfehlung Scheurer-Kestners beschuldigte Mathieu Dreyfus am 15. November 1897 in einem Offenen Brief an den Kriegsminister Esterhazy der Urheberschaft des Bordereau (die inzwischen auch durch einen Handschriftenvergleich

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