Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
der Geschichte Frankreichs bezeichnet werden.»
Das gesamte politische Spektrum Frankreichs wurde durch die Dreyfus-Affäre nachhaltig umgeformt. Der Antisemitismus der Rechten hatte eine Schlacht verloren: Der Ausgang des Skandals nahm ihm die Chance, die politische Kultur des Landes so zu prägen, wie er das in Deutschland und Österreich-Ungarn tat. Seine Breitenwirkung ließ nach, zugleich aber radikalisierte er sich. Zu seiner militanten Speerspitze wurde die 1899 im Zusammenhang mit der Dreyfus-Affäre entstandene Action française unter Führung von Charles Maurras, der gleichzeitig auch der wichtigste Autor der «Revue de l’Action française» und später, seit 1908, der Tageszeitung «Action française» war. Sein publizistisches Debut hatte der damals dreißigjährige Südfranzose Maurras im September 1898 in der «Gazette de France» gegeben. Er nahm den Selbstmord von Oberst Henry zum Anlaß, dessen nachgewiesene Fälschung, den angeblichen Brief des italienischen Militärattachés Panizzardi an seinen deutschen Kollegen Schwartzkoppen, als patriotische Tat zu feiern. «Unsere schlechte, halbprotestantische Erziehung ist unfähig, einen solchen Adel der Gesinnung richtig einzuschätzen. Wir konnten dem Obersten nicht die große Leichenfeier bereiten, die wir seinem Martyrium schuldig waren. Wir hätten über die Boulevards seine blutige Uniform und das befleckte Messer tragen, seinen Sarg zeigen und das Leichentuch als schwarze Fahne wehen lassen sollen. Es ist eine Schande für uns, daß wir es nicht gewagt haben … Die Fälschung wird als eine der besten Kriegstaten des Obersten fortleben.»
Maurras war, was aus seiner Sicht keinen Widerspruch bedeutete, zugleich antichristlich und prokatholisch. Er verherrlichte die polytheistische Antike und bewunderte die Hierarchie der Papstkirche; er haßte die Deutschen, die Protestanten, die Freimaurer und die Juden, verabscheute die parlamentarische Republik und alles, was mit der Revolution von 1789 zusammenhing, also auch den Bonapartismus; er bekannte sich zur Monarchie, aber nicht der des Absolutismus, sondern jener der Zeit vor Richelieu; er verklärte das lateinische Erbe, auf das er Frankreichs kulturelle Überlegenheit zurückführte. Manches verband ihn mit dem anderen großen Ideologen des radikalen Nationalismus, dem sechs Jahre älteren Lothringer und einstigen Boulangisten Maurice Barrès, der einen mystischen Kult um die Erde und die Toten, um Blut und Boden pflegte, das «Ich» im «Wir» der Nation auslöschen wollte, entschieden antiparlamentarisch gesinnt war, die Deutschen und die Juden ebenso leidenschaftlich bekämpfte wie Maurras, aber anders als dieser seinen Antisemitismus nicht mental, sondern rassisch begründete und Revolution und Republik als Teile der französischen Geschichte bejahte, die Wiederherstellung der Monarchie also ablehnte.
Für Maurras hingegen war, wie er im März 1900 schrieb, die Erbmonarchie die natürliche Verfassung Frankreichs. «Ohne König wird alles, was die Nationalisten wollen, sich zuerst abschwächen und dann notwendigerweise untergehen. Ohne König wird alles, was sie reformieren wollen, bestehen bleiben und sich verschlimmern oder, kaum zerstört, in gleichwertigen Formen wieder auftauchen.» Die Royalisten seien katholisch wie die katholische Partei, für eine starke und verantwortliche Gewalt wie Déroulèdes Liga der Patrioten, dezentralistisch wie die Befürworter einer größeren Selbständigkeit der Kommunen und Provinzen. «Aber anstatt alles von einer zufälligen Laune des Glücks oder der Leidenschaft zu erwarten, erstreben sie es aus der logischen Notwendigkeit und der einfachen Konsequenz der Tatsache heraus, daß sie die Rückkehr zur nationalen Monarchie wollen. Im wesentlichen entspricht der Royalismus den unterschiedlichen Postulaten des Nationalismus: er ist selbst der integrale Nationalismus» (il est lui-même le nationalisme intégral).
«Integraler Nationalismus» wurde zu einem Schlagwort, das bald über Frankreich hinaus Verbreitung fand. Es zielte auf die Steigerung des Loyalitätsanspruchs der Nation bis zu einem Punkt, wo jedes partikulare Interesse als potentiell illegitim erschien, weil in letzter Instanz nur das Interesse der Nation Legitimität für sich beanspruchen konnte. Maurras war mit diesem Ansatz der volonté générale Rousseau sehr viel näher, als ihm bewußt war und angesichts seiner Absage an die Ideen von 1789 lieb sein konnte. Zu Ende gedacht, konnte der
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