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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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ein Bankier Esterhazys entdeckt hatte).
    Die Regierung blieb dessen ungeachtet bei ihrem Nein zu einer Wiederaufrollung des Falles Dreyfus. Am 7. Dezember 1897 mißbilligte der Senat das Vorgehen seines Vizepräsidenten und sprach der Regierung sein Vertrauen aus. Ministerpräsident Méline erklärte bei dieser Gelegenheit lakonisch: «Es gibt keine Dreyfus-Affäre» (Il n’y a pas d’affaire Dreyfus). Am 31. Dezember wurde eine von Esterhazy angestrengte kriegsgerichtliche Untersuchung beendet: Schriftsachverständige hatten ausgesagt, der Offizier könne das Bordereau nicht verfaßt haben. Der untersuchende Major befand vorher, daß es keinen Grund gebe, die Anklage aufrechtzuerhalten.
    Damit war der Skandal aber nicht etwa beendet, er trat vielmehr in eine neue, die Öffentlichkeit aufwühlende Phase, in der sich Frankreich, soweit es Anteil an der Affäre nahm, in zwei feindliche Lager, «Dreyfusards» und «Antidreyfusards», spaltete. Am 13. Januar 1898 veröffentlichte «L’Aurore», die Zeitung Clemenceaus, einen Offenen Brief émile Zolas an den Präsidenten der Republik. Darin beschuldigte der berühmteste Schriftsteller des Landes den Oberstleutnant du Paty de Clam, der «teuflische Urheber des Justizirrtums» zu sein; er nannte den ehemaligen Kriegsminister Mercier den «Mitschuldigen an einer der größten Ungerechtigkeiten des Jahrhunderts» und warf dessen (vierten) Nachfolger Billot vor, durch Unterdrückung von Beweisen für die Unschuld von Alfred Dreyfus ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben. Ebenso schwere Vorwürfe erhob Zola gegen die Generäle Boisdeffre und Gonse und die Offiziere, die die Untersuchungen im Fall Esterhazy geleitet hatten, gegen die von ihnen bestellten Schriftsachverständigen und gegen die nationalistische Presse. Die beiden Kriegsgerichte, die Dreyfus verurteilt und Esterhazy freigesprochen hatten, klagte er an, weil das erste rechtswidrig sein Urteil auf ein Dokument gestützt habe, das vor dem Angeklagten geheim gehalten wurde, und das zweite, weil es auf Befehl wissentlich einen Schuldigen für unschuldig erklärt und damit ein Rechtsverbrechen begangen habe.
    Zola nahm, wie er schrieb, mit seinen Anklagen bewußt eine strafrechtliche Verfolgung wegen übler Nachrede in Kauf. Er bezeichnete die Tat, die er vollbringe, als ein «revolutionäres Mittel, um den Durchbruch der Wahrheit und der Gerechtigkeit zu beschleunigen». Sein Offener Brief schloß mit den Worten: «Ich habe nur eine Leidenschaft, die der Aufklärung im Namen der Menschheit, die so viel gelitten hat und die ein Recht auf Glück besitzt. Mein glühender Protest ist nur ein Schrei meiner Seele (le cri de mon âme). Wage man es, mich vor das Schwurgericht zu bringen, und möge die Erörterung in aller Öffentlichkeit stattfinden! Ich warte!»
    «J’accuse» gilt mit Recht als klassisches Dokument einer intellektuellen Intervention in die aktuelle Politik und Zola als Verkörperung des politischen Intellektuellen. Der fulminante Text rechtfertigt solche Einschätzungen. Im Detail war manches anfechtbar. Von der Schlüsselrolle des Oberst Henry sprach der Autor nicht, da hiervon um die Jahreswende 1897/98 nur wenige Eingeweihte wußten. Die Behauptung, die Militärrichter hätten auf Weisung von oben das Recht gebrochen, war eine nicht zu beweisende und angesichts des in diesem Kreis waltenden «Esprit de Corps» eher unwahrscheinliche Behauptung. Aber die Stoßrichtung des offenen Briefes traf den Kern der Affäre: die bewußte Vertuschung eines Justizirrtums im Namen einer Staatsräson, die das Prestige der Armee zum höchsten, also auch dem Streben nach Recht und Gerechtigkeit übergeordnetem Gut erhob. Wie das Echo auf den Artikel zeigte, ließ sich zunächst nur eine Minderheit der Franzosen vom Anliegen Zolas überzeugen, nämlich die entschiedenen bürgerlichen Republikaner und die Sozialisten. Das konservative, klerikale und monarchistische Frankreich empfand die Anklagen des Dichters als Angriff auf die Ehre der Nation. Die Dreyfus-Affäre bewegte zudem das «flache Land» sehr viel weniger als die großen Städte; sie war, was die Intensität der Debatten betraf, vor allem eines: ein Pariser Thema.
    Am 7. Februar 1898 begann der Prozeß gegen Zola. Einziger Anklagepunkt war seine Beschuldigung, das Kriegsgericht habe Esterhazy «auf Befehl» freigesprochen. Am 13. Februar wurde Zola zur Höchststrafe auf üble Nachrede, nämlich einem Jahr Gefängnis und 3000 Francs

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