Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
integrale Nationalismus totalitäre Konsequenzen zeitigen, und in der Tat haben manche Autoren die Action française zu einer Frühform des europäischen Faschismus erklärt. Die gewaltsamen, die politischen Gegner terrorisierenden Kampfmethoden ihrer Stoßtruppen, der «Camelots du Roi» (Marktausrufer des Königs), weisen manche Ähnlichkeiten mit den Kampfbünden der radikalen Rechten in der Zwischenkriegszeit auf, und auch was Antimarxismus, Antikapitalismus, Antiparlamentarismus und Antiliberalismus angeht, ist die Verwandtschaft zwischen der Action française und den späteren Faschismen offenkundig.
Anders als diese wurde die 1905 gegründete Ligue d’Action française jedoch nie zu einer Massenorganisation. Ihren gesellschaftlichen Rückhalt hatte sie vor allem unter Studenten und Intellektuellen, unter Angehörigen des Großbürgertums und des Adels. Sie absorbierte zwar andere rechte Verbände wie die Ligue des patriotes, die Ligue de la patrie française und die Ligue antisémite, aber um nennenswerte Einbrüche in das Proletariat zu erzielen, war sie viel zu bürgerlich. Die Faschisten gaben sich egalitär und revolutionär, die Action française elitär und reaktionär; sie war zu autoritär, um totalitär werden zu können. Charles Maurras und seine intellektuellen Mitstreiter, obenan Henri Vaugeois, Maurice Pujo, Léon Daudet und Jacques Bainville, mögen in mancher Hinsicht Wegbereiter des italienischen Faschismus und des deutschen Nationalsozialismus gewesen sein, sie standen aber in ihrem Denken den Theoretikern der Gegenrevolution wie de Maistre und Bonald näher als Benito Mussolini und Adolf Hitler.
Da die Action française sich zur Monarchie bekannte und zudem als außerparlamentarische Opposition auftrat, hatte sie nie eine Chance, die ganze Rechte hinter sich zu bringen. In den beiden Kammern des Parlaments stellten nach wie vor etablierte Konservative einen Großteil der Rechten, unter ihnen neben katholischen Monarchisten auch die «ausgesöhnten Katholiken», die sich unter dem Pontifikat Leos XIII. im Zeichen des «Ralliements» auf den Boden der Dritten Republik gestellt hatten. Die politische Mitte hatte sich, wie erwähnt, Anfang 1899 gespalten: Der rechte Flügel der Antidreyfusards schloß sich aus Furcht vor einer sozialen Revolution den Konservativen an, der linke, entschieden republikanische und antiklerikale Flügel der Dreyfusards näherte sich unter dem Etikett «progressistisch» den Radicaux an und gehörte seit Juni 1899 der Koalition an, die die Regierung des «Progressisten» Waldeck-Rousseau trug.
In die dreijährige Regierungszeit Waldeck-Rousseaus fällt die Umformung einiger bisher nur locker organisierter politischer Vereinigungen in fester gefügte Parteien. Im Frühjahr 1901 entstand die Alliance Républicaine Démocratique; Ministerpräsident Waldeck-Rousseau und die ehemaligen wie künftigen Minister Poincaré und Barthou gehörten zu den bekanntesten ihrer politischen Führer. Im gleichen Jahr wurde der Parti républicain, radical et radical-socialiste gegründet: eine Zusammenfassung des linken Flügels der in die gemäßigte «Gauche radicale» und die weiter linksstehenden «Radicaux-Socialistes» gespaltenen Radicaux, wobei der Begriff «socialiste» nichts mit Enteignung oder auch nur Umverteilung des Besitzes zu tun hatte, sondern lediglich Fürsorge für die kleinen Leute in der Tradition der Jakobiner meinte. An der Spitze der politischen Forderungen der neuorganisierten Radicaux (oder Radicaux-socialistes, wie sie meist genannt wurden) standen die Verteidigung der Republik und eine strikte Trennung von Staat und Kirche: Postulate, die sich für eine vom Freimaurertum geprägte Partei wie die Radikalen nachgerade von selbst verstanden. Georges Clemenceau, der 1902 in den Senat gewählt wurde, war das mit Abstand bekannteste Mitglied der Führungsgruppe dieser fortan tonangebenden Partei der Dritten Republik.
Vier Jahre nach den Radicaux schlossen sich auch (wovon schon im Zusammenhang mit der Zweiten Internationale die Rede war) die gespaltenen Sozialisten zusammen: Der im April 1905 gegründete Parti Socialiste (Section française de l’Internationale Ouvrière [S.F.I.O.]) vereinigte die orthodoxen Marxisten im Parti Socialiste de France unter Jules Guesde und die Reformisten des Parti Socialiste Français um den Gründer und Herausgeber der Parteizeitung «L’Humanité», Jean Jaurès. Die Fusion wurde dadurch erleichtert, daß es den
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