Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Redner, darunter einer aus dem kriegführenden Bulgarien, sprachen von der Kanzel, und einige nahmen ausdrücklich auf den «genius loci» Bezug. Der Vorsitzende der Schweizer Sozialdemokraten, Hermann Greulich, erinnerte daran, daß von Tausenden und Abertausenden Kanzeln gepredigt werde, daß der Mensch ein Ebenbild Gottes und der menschliche Leib göttlichen Ursprungs sei. «Welch greller Widerspruch dazu ist der organisierte Massenmord! Deshalb soll von dieser Kanzel frei und offen verkündigt werden, daß der fürchterlichste Verbrecher an Gott und den Menschen derjenige wäre, der es wagte, eine Kriegserklärung zu unterzeichnen, die für die Völker Mord und Verbrechen bringt.»
Keir Hardie aus Großbritannien nannte das Basler Münster einen «Tempel der Menschlichkeit». Der Franzose Jean Jaurès stellte fest, in Basel hätten die Christen den Sozialisten das Münster geöffnet. «Unser Ziel ist auch ihr Gedanke, ist auch ihr Wille: den Frieden zu erhalten. Müssen doch alle Christen, die noch ernsthaft auf die Worte ihres Meisters hören, dieselbe Hoffnung wie wir hegen. Sie werden sich mit uns widersetzen, daß die Völker in die Klauen des Dämons des Krieges geraten.» Victor Adler aus Wien vermutete, daß für die ihm unbekannten Männer, die einer Tagung der Internationale im Münster zugestimmt hätten, das Wort Christentum noch «Menschenliebe, Frieden auf Erden und Wohlgefallen an den Menschen» bedeutete. August Bebel aus Deutschland schließlich freute sich am zweiten und letzten Kongreßtag, der wie die Eröffnungssitzung an einem weltlichen Ort, dem Saal der «Burgvogtei», stattfand, daß er als Atheist den kirchlichen Behörden seinen Dank aussprechen konnte dafür, «daß sie uns gestern das prachtvolle Münster zur Verfügung und uns mit Glockenläuten empfangen haben, als kämen ein Großer der Erde, ein Bischof oder ein Papst». Ein solches Zeichen christlicher Toleranz sei leider in der Christenheit ganz selten. «Das Gegenteil ist heute die allgemeine Anschauung in der Christenheit, und besonders uns gegenüber, die wie als Feinde der Religion, der Ehe und der Familie dargestellt werden, als die Umstürzler, die alles durcheinander werfen wollen. Ich bin freilich der Überzeugung, daß wenn heute der christliche Heiland wiederkäme und diese vielen christlichen Gemeinden, diese Hunderte von Millionen sähe, die sich heute Christen nennen, es aber nur dem Namen nach sind, daß er dann nicht in ihren Reihen, sondern in unserem Heer stehen würde.» Das Protokoll verzeichnet nach diesen Worten stürmischen Beifall.
Das vom Internationalen Büro einstimmig verabschiedete «Manifest der Internationale zur gegenwärtigen Lage» verpflichtete die arbeitenden Klassen und deren parlamentarische Vertretungen, bei drohender Kriegsgefahr «alles aufzubieten, um durch die Anwendung der ihnen am wirksamsten erscheinenden Mittel den Ausbruch des Krieges zu verhindern, die sich nach der Verschärfung des Klassenkampfes und der Verschärfung der allgemeinen politischen Situation naturgemäß ändern. Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen.»
Den allgemeinen leitenden Grundsätzen folgten Ausführungen über die Hintergründe des Krieges auf dem Balkan und die Gefahr seiner Ausweitung. An die Arbeiter Deutschlands, Frankreichs und Englands erging die Aufforderung, von ihren Regierungen zu verlangen, «daß sie sowohl Österreich-Ungarn als auch Rußland jede Unterstützung verweigern, sich jeder Einmengung in die Balkanwirren enthalten und unbedingte Neutralität bewahren. Ein Krieg zwischen den drei großen führenden Kulturvölkern wegen des serbisch-österreichischen Hafenstreits (bei dem es um den von Wien abgelehnten Anspruch Serbiens auf einen Zugang zur Adria ging, H.A.W.) wäre verbrecherischer Wahnsinn. Die Arbeiter Deutschlands und Frankreichs können nicht anerkennen, daß irgendeine durch geheime Verträge herbeigeführte Verpflichtung besteht, in den Balkankrieg einzugreifen … Die überwindung des Gegensatzes zwischen Deutschland auf der einen, Frankreich und England auf der anderen Seite würde die größte Gefahr für den Weltfrieden beseitigen, die Machtstellung des Zarismus, der
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