Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Sitze erhielten, und die Sozialdemokraten, die erstmals für die Duma kandidierten und 64 Mandate erzielten. Die Sozialrevolutionäre, die noch immer dem Terror als politische Waffe anhingen, kamen auf 34 Parlamentarier.
Da es in der Zweiten Duma keine Mehrheit für das wichtigste Vorhaben Stolypins, die Agrargesetze, gab, löste der Regierungschef das Parlament am 16. Juni 1907 auf und erließ nach dem Notverordnungsartikel 87 des Grundgesetzes von 1906 ein neues Wahlrecht, das die Grundbesitzer begünstigte. Sie stellten ungefähr die Hälfte der Wahlmänner, die ihrerseits die Mitglieder der Duma wählten. Die Stimmengewichtung war, wie der Historiker Heinz-Dietrich Löwe feststellt, kraß ungleich. «Im Durchschnitt kam ein Vertreter im Wahlmännergremium auf 230 Grundbesitzer, 1000 Industrielle und Geschäftsleute, 15.000 Wähler der Mittelklasse, 60.000 Bauern und 125.000 städtische Arbeiter. Einzelne Schichten waren von den Wahlen ausgeschlossen, so z.B. die gesamte ländliche Intelligenz und Bauern, die ihren landwirtschaftlichen Betrieb aufgegeben hatten und ihren Landanteil nicht selbst bewirtschafteten. Eine Folge des indirekten Wahlrechts und der Vorherrschaft der adligen Grundbesitzer war, daß die Opposition bei den Wahlen zur Dritten Duma etwa 41 Prozent der Wahlmännerstimmen, aber nur 29 Prozent der Dumasitze gewinnen konnte.»
Die Nutznießer von Stolypins Staatsstreich waren die konservativen «Oktobristen», die seit den Wahlen zur Dritten Duma im November 1907 mit zunächst 160 Abgeordneten die stärkste Fraktion bildeten; ohne sie kam keine Mehrheit zustande. Die Kadetten, auf die 53 Sitze entfielen, wurden 1908 zur staatsfeindlichen Organisation erklärt, ihre Mitglieder vom Staatsdienst ausgeschlossen. Die meisten sozialdemokratischen Abgeordneten der Zweiten Duma waren schon im Sommer 1907 wegen Hochverrats angeklagt und zur Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt worden.
Die scharfe Wendung gegen die Linke sicherte Stolypin aber nicht das Vertrauen der Rechten. Eine einflußreiche Gruppierung von Adligen, der sogenannte «Vereinigte Adel», lehnte ebenso wie die orthodoxe Kirche die vom Ministerpräsidenten angestrebte Auflösung des bäuerlichen Gemeineigentums, der «obšcina» oder des «mir», ab und unterstellte Stolypin die Absicht, die Macht des Zaren brechen zu wollen. Ihren sichersten Rückhalt hatte die Rechte im Reichsrat, dem teils gewählten, teils vom Zaren ernannten Oberhaus. Während Stolypin in der Duma meist Mehrheiten fand, scheiterte er häufig im Reichsrat. Die Rechte der Duma machte ein taktisches Spiel daraus, zusammen mit den Kadetten Gesetzesvorlagen der Regierung bis zu dem Punkt zu «liberalisieren», wo das Veto des Reichsrats sicher erschien.
Die Magna Charta der Agrarreform, des wichtigsten Vorhabens der Regierung Stolypin, war der Ukas vom 22. November 1906: eine Notverordnung, durch die die Abschaffung der «obšcina» eingeleitet werden sollte. Dreieinhalb Jahre später, im Juni 1910, wurde die Verordnung von der Dritten Duma bestätigt und ergänzt. Bauernhaushalte konnten auf Grund des Ukas von 1906 ihr Ausscheiden aus der Eigentumsgemeinschaft beantragen und sich das von ihnen bewirtschaftete Land als privates Eigentum übertragen lassen. In der Praxis trat die Schaffung von Einzelhöfen jedoch seit 1910 hinter der sogenannten «Gruppenkonsolidierung» zurück: Eigentumsgemeinschaften, deren Streubesitz sich auf mehrere Dörfer verteilte, wurden entflochten und auf diese Weise rationalisiert. Erfolgreich war die Reform vor allem dort, wo die «obšcina» keine große Rolle spielte oder sich ohnehin schon in der Auflösung befand: im Westen und Nordwesten Rußlands sowie in den südlichen und südöstlichen Steppenregionen. In dem zentralen Schwarzerdegebiet, wo die Landwirtschaft am rückständigsten und die Armut am größten war, schritt die Auflösung der «obšcina» jedoch kaum voran: Das Verbleiben im Gemeindeverband schien den meisten Bauernfamilien mehr Sicherheit zu bieten als die Gründung eines Einzelhofs.
Die Motive, von denen Stolypin sich bei seiner Agrarreform leiten ließ, waren die eines Modernisierers. Es ging ihm um eine rationellere Form der landwirtschaftlichen Produktion, um den Abbau der Überbevölkerung auf dem Lande und die weitere Industrialisierung Rußlands. «Durch die Reform wurden rechtliche und institutionelle Schranken beseitigt, die sich bislang außerordentlich fortschrittshemmend ausgewirkt hatten», urteilt der
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