Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
frühesten organisatorischen Ausdruck im 1838 ins Leben gerufenen «Grütliverein», dem auch Handwerksmeister und radikale bürgerliche Intellektuelle angehörten. 1873 entstand der «Arbeiterbund», der Gewerkschaft und Partei in einem war. Aus ihm entwickelten sich 1880 der Allgemeine Gewerkschaftsbund und 1888 die Sozialdemokratische Partei der Schweiz, der sich 1901 auch der Grütliverein anschloß. Das Programm der Sozialdemokraten klang marxistisch; unter Führung von Hermann Greulich, einem Anhänger der Lehren des Frühsozialisten Charles Fourier, nahm ihre Praxis aber bald immer stärker reformistische Züge an. Vom anarchistischen Erbe der Arbeiterbewegung des französischsprachigen Jura war in der Schweizer Sozialdemokratie kaum noch etwas zu spüren.
Ursprünglich ein Bauernland, industrialisierte sich die Schweiz im Verlauf des 19. Jahrhunderts so stark, daß der Anteil der von der Landwirtschaft lebenden Erwerbstätigen kontinuierlich zurückging: 1888 lag er noch bei 38 Prozent, 1910 bei 27, 1960 bei 11,2 Prozent. Wie in Skandinavien stellte sich die Landwirtschaft mit großem Erfolg von Ackerbau und Viehzucht auf eine exportorientierte Veredelungswirtschaft um. Exportorientierung und Spezialisierung auf höchste Qualität waren auch die Kennzeichen der schweizerischen Industrie, obenan die Maschinenindustrie, die neben Fremdenverkehr und Banken zu einem der wichtigsten Wirtschaftszweige aufstieg. Der wachsende Wohlstand zog auch immer mehr Menschen aus anderen Ländern an: Um 1910 hatte die Schweiz einen Ausländeranteil von 14,7 Prozent – den wohl höchsten aller europäischen Länder.
Doch es waren nicht nur materielle Motive, die Ausländer in die Schweiz lockten. Die Eidgenossenschaft war vor 1914 das freieste und das am wenigsten nationalistische Land Europas, und eben deshalb war sie auch ein beliebter Zufluchtsort der politisch Verfolgten und Unterdrückten, vor allem solcher aus dem russischen Zarenreich. Die freiheitliche Atmosphäre der Schweiz war auch ein Grund, weshalb die Zweite Internationale sich entschloß, Ende November 1912 einen außerordentlichen Kongreß in diesem Land, und zwar in der Stadt abzuhalten, in der ein Sozialdemokrat an der Spitze der Kantonsregierung stand: in Basel. Anlaß des Treffens war der überaus blutige erste Balkankrieg zwischen Albanien, Bulgarien, Serbien und Griechenland auf der einen, der Türkei auf der anderen Seite: ein Konflikt, auf den zurückzukommen sein wird. Folglich gab es für den Kongreß nur ein Thema: die Verhinderung eines großen europäischen Krieges.
Ungewöhnlich war der Ort, wo die Vertreter von 23 sozialistischen Parteien zusammenkamen: das Basler Münster. Der letzte internationale Kongreß, der hier stattgefunden hatte, war das 17. der ökumenischen Konzilien von 1431 bis 1449, bei dem es um die Bekämpfung der Hussiten, den Frieden unter den christlichen Fürsten und die Reform der Kirche gegangen war. Die Vorsteher der Münstergemeine hatten sich, wie der reformierte Pfarrer Täschler in seiner Predigt einige Stunden vor Beginn der Tagung sagte, einstimmig dafür entschieden, ihre Kirche für einen internationalen sozialen Arbeiterkongreß zu öffnen: «Ungeachtet der Stellung des einzelnen zur Sozialdemokratie sind wir doch alle einig in der Freude über diesen Beschluß. Wenn man uns einzureden versucht, der Krieg sei eine Wohltat oder eine traurige Notwendigkeit, so antworten wir: Der Krieg ist ein übel, das beseitigt werden soll und kann. Wir verehren den Gott der Gerechtigkeit, der Bruderliebe und des Friedens. Es ist eine von christlichem Geist getragene Versammlung, die nachmittags hier tagen wird, selbst wenn sich Redner einer Ausdrucksweise bedienen, die uns fremdartig anmutet, und weil bei diesem Kongreß christliche Grundsätze und Ideen proklamiert werden sollen, darum begrüßen wir auch mit warmer Sympathie die Männer, die zum Teil aus weiter Ferne zu uns angereist sind.»
Nicht minder ungewöhnlich als der Tagungsort waren die Umstände der Eröffnung des Sozialistentreffens. Auf dem Münsterplatz hatten sich am Nachmittag des 24. November 1912, eines Sonntags, Tausende von Arbeitern aus allen Teilen der Schweiz, aus Baden und dem Elsaß versammelt, um die Teilnehmer des Kongresses zu begrüßen. Erst läuteten eine Viertelstunde lang die Münsterglocken, dann spielte der Organist, während die Delegierten unter roten Fahnen in das Kirchenschiff einzogen, ein Orgelwerk von Johann Sebastian Bach. Die
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