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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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diesen Gegensatz ausbeutet, erschüttern, einen Überfall Österreich-Ungarns auf Serbien unmöglich machen und der Welt den Frieden sichern. Auf dieses Ziel vor allem sind daher die Bemühungen der Internationale zu richten.»
    So präzise die Analyse war, so wenig konkret waren die Empfehlungen für den Ernstfall. Da die deutschen Sozialdemokraten sich auf einen Generalstreik zur Abwehr des Krieges, wie ihn seit langem die französischen Sozialisten und in Basel auch Keir Hardie für die Labour Party forderten, nicht festlegen wollten, unterblieb jeder Hinweis auf dieses Kampfmittel. Das Basler Manifest war eine Bekundung des unbedingten Friedenswillens der sozialistischen Arbeiterschaft und nicht mehr als das. Das letzte Wort hatte der Vorsitzende der gastgebenden Partei. Hermann Greulich berief sich auf das Credo des christlichen Glaubensbekenntnisses und besonders auf die Worte von der Auferstehung der Toten und das Leben des kommenden Zeitalters. Er fügte hinzu: «Das ist ja unsere Hoffnung! Die Millionen von Proletariern, die uns noch fernstehen, die wie ein Bleigewicht an unserer Bewegung hängen, das sind die Toten, die auferstehen sollen!» Greulichs letzte Worte wurden mit stürmischem Beifall bedacht: «Und nun gehen wir auseinander mit dem Rufe, der den Sinn unseres ganzen Kongresses zusammenfaßt: War against war, guerre à la guerre, Krieg dem Kriege.»[ 32 ]
    Repression und Avantgarde: Rußland 1906–1914
    Das Land, dem die Internationale in Basel ihre schärfste Kampfansage entgegenschleuderte, war Rußland. Der Kongreß begrüßte «mit großer Freude» die jüngsten Proteststreiks der russischen Arbeiter gegen die Kriegsgefahr und würdigte diese Aktionen als «eine Bürgschaft dafür, daß das Proletariat Rußlands und Polens sich zu erholen beginnt von den Schlägen, die die zarische Konterrevolution ihm versetzt hat». Wenn der Zarismus sich nunmehr wieder anschicke, sich als Befreier der Nationen des Balkans zu gebärden, so geschehe das nur, um unter diesem «heuchlerischen Vorwand im blutigen Krieg die Vorherrschaft am Balkan wieder zu erobern». Die Aufgabe des städtischen und ländlichen Proletariats in Rußland, Finnland und Polen war es demzufolge, dieses «Lügengewebe zu zerreißen», sich jedem kriegerischen Abenteuer und Anschlag des Zarismus zu widersetzen und seine ganze Kraft auf die Erneuerung des revolutionären Befreiungskampfes gegen den Zarismus zu konzentrieren. Die Begründung entsprach den Positionen, die Marx und Engels schon 1848/49 bezogen hatten: «Ist doch der Zarismus auch die Hoffnung aller reaktionären Mächte Europas, der grimmigste Feind der Demokratie der von ihm beherrschten Völker selbst, dessen Untergang herbeizuführen die gesamte Internationale als eine ihrer vornehmsten Aufgaben ansehen muß.»
    Man mußte kein revolutionärer Sozialist sein, um im Zarenreich der Jahre vor 1914 ein zutiefst reaktionäres System zu sehen. Die Revolution von 1905/06 hatte das russische Ancien régime nicht liquidiert, sondern nur bürokratisiert. Aber diese Veränderung war doch tiefgreifend genug, um jene «Revolution von oben» zu ermöglichen, die mit dem Namen des Ministerpräsidenten der Jahre 1906 bis 1911, Pjotr Arkajewitsch Stolypin, verbunden ist.
    Der bisherige Innenminister und vormalige Gouverneur von Saratow war zutiefst davon überzeugt, daß Rußland sich nur dann in ein westliches System mit demokratischem Wahlrecht verwandeln konnte, wenn zuvor ein starkes städtisches Bürgertum und eine selbstbewußte Schicht von wohlhabenden Bauern herangewachsen waren. Seine Regierungszeit begann er im November 1906 mit einem Kaiserlichen Manifest, das die Auflösung der im Februar und März desselben Jahres gewählten Ersten Duma und Neuwahlen Anfang März 1907 verfügte. Die Konstitutionellen Demokraten, kurz Kadetten genannt, die die stärkste Fraktion im Parlament stellten, begaben sich daraufhin ins finnische Wyborg, wo sie wegen des Sonderstatus des Großfürstentums vor dem Zugriff der russischen Polizei sicher waren, und riefen von dort aus das Volk auf, keine Steuern mehr zu zahlen und Rekrutierungsbefehlen nicht zu folgen. Der Appell blieb zwar ohne Widerhall. In der Zweiten Duma aber waren die radikalen Kräfte sehr viel stärker vertreten als in der Ersten. Die stärkste Gruppe bildeten nunmehr mit 100 Abgeordneten die linken Trudoviki (Werktätigen), die sich mit dem Allrussischen Bauernbund zusammengeschlossen hatten. Es folgten die Kadetten, die 92

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