Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Land erst sehr viel später, durch die Verfassungsreform von 1980, durchrang.
Das föderalistische Land schlechthin war seit jeher die älteste Republik Europas: die viersprachige Schweiz (wenn man das Rätoromanische ebenso mitzählt wie das Deutsche, Französische und Italienische). Bis zur Proklamation der Dritten Republik in Frankreich im September 1870 war die Schweiz die einzige Demokratie des alten Kontinents. Drei Jahre später wurde sie noch demokratischer, als sie es seit der Revolution von 1847/48 war: Am 19. April 1874 nahmen die Eidgenossen eine neue, bis heute gültige Bundesverfassung an, die die Verfassung vom September 1848 in wichtigen Punkten revidierte und am 29. Mai 1874 in Kraft trat. Dem Bund oblag fortan die Verantwortung für die Ausbildung und Bewaffnung der Truppen, wodurch die Bundesgewalt erheblich gestärkt wurde. Im zentralistischen Sinn wirkten auch neue Befugnisse des Bundes im Rechtswesen, im Wirtschaftsleben und beim Arbeiterschutz.
Die Kantone waren zwar weiterhin, wie Artikel 3 in wörtlicher Übernahme des Artikels 3 der Verfassung von 1848 feststellte, «souverän», aber mit der bisherigen Einschränkung: «soweit ihre Souveränität nicht durch die Bundesverfassung beschränkt ist»; sie übten also alle Rechte aus, welche nicht der Bundesgewalt übertragen waren. Kulturkämpferisch waren die Verschärfung des «Jesuitenartikels» und die zusätzliche Bestimmung, daß das Verbot der Societas Jesu durch Bundesbeschluß auf andere geistliche Orden ausgedehnt werden konnte, «deren Wirksamkeit staatsgefährlich ist oder den Frieden der Konfessionen stört». Die in der Verfassung von 1848 verankerte, gegen die Juden gerichtete Beschränkung des Niederlassungsrechts auf Schweizer, «welche einer christlichen Konfession angehören», entfiel. Der Zugewinn an Demokratie bestand in der Einführung des fakultativen Referendums für Bundesgesetze und allgemein verbindliche Bundesbeschlüsse, die nicht dringlicher Natur waren: Diese Gesetze und Beschlüsse mußten Gegenstand einer Volksabstimmung werden, wenn 30.000 stimmberechtigte Schweizerbürger (das waren die männlichen Schweizer, die das 20. Lebensjahr vollendet hatten) oder acht Kantone es verlangten. 1891 kam noch das Initiativrecht des Volkes auf Teilrevision der Verfassung der Volksabstimmung hinzu. (Das Recht auf Beantragung einer Totalrevision war seit 1848 verbürgt.)
Ein Modell konnte und wollte die Schweiz mit ihrer Form von direkter Demokratie nicht sein. Die Eidgenossenschaft fühlte sich in ihrer bewaffneten Neutralität so sicher, daß sie auf eine aktive Außenpolitik fast völlig verzichten zu können glaubte. Ihre Staatsspitze war ein kollegiales Gremium, der Bundesrat; dessen Vorsitzender, der Bundespräsident, wurde jeweils für ein Jahr gewählt; eine unmittelbare Wiederwahl war nicht möglich. Staaten, für die die politischen Beziehungen zur Außenwelt eine höhere Bedeutung besaßen als für die Schweiz, taten gut daran, dem Bedürfnis nach Kontinuität und Kalkulierbarkeit ihrer auswärtigen Politik Rechnung zu tragen, und konnten sich schon deswegen nicht den Risiken häufiger Referenden aussetzen. An einer politischen Kontinuität und Kalkulierbarkeit fehlte es der Schweiz freilich durchaus nicht: Da in der Regel alle im Nationalrat vertretenen Parteien Bundesräte stellten, waren Kompromisse das Hauptmerkmal der Regierungspolitik; ein Machtwechsel zwischen Regierung und Opposition, wie er für ein parlamentarisches System typisch ist, war hingegen ausgeschlossen. Die Referenden hatten mithin die Funktion eines Korrektivs zu dieser Art von Konsensdemokratie: Sie gaben dem Souverän die Möglichkeit, sein Veto einzulegen gegen Entscheidungen, die eine Mehrheit der Bürger nicht mittragen wollte.
Der Anstoß zur Revision der Verfassung von 1848 war von den Radikalen und Demokraten gekommen. 1878 schlossen sie sich zu einer «radikal-demokratischen Gruppe» in der Bundesversammlung, das heißt im direkt gewählten Nationalrat und in dem von den Kantonen gewählten Ständerat, zusammen. 1894 ging aus dieser Gruppe die Freisinnig-demokratische Partei hervor, die bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts auch die Bauernpartei war und dank des Mehrheitswahlrechts eine hegemoniale Position im Schweizer Parteiensystem behaupten konnte. Ebenfalls 1894 wurde die Katholische Volkspartei gegründet, die sich 1912 in Schweizerische Konservative Volkspartei umbenannte. Die Arbeiterbewegung fand ihren
Weitere Kostenlose Bücher