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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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Historiker Hellmut Gross. «Wenn auch die Austritte aus der ‹obšcina› seit 1908 zurückgingen, so stieg die Zahl der konsolidierten Höfe bis 1914 ständig an.» Der agrarischen Überbevölkerung sollte das Umsiedlungsprogramm der Regierungen Stolypin und seiner Nachfolger entgegenwirken, und tatsächlich wurden zwischen 1906 und 1913 zwischen zwei und drei Millionen Bauern in Sibirien oder in den zentralasiatischen Regionen angesiedelt. Wichtiger noch war der rasante industrielle Aufschwung seit 1908, der vor allem von der Roheisen- und Kohleproduktion getragen wurde: Er sog einen Teil der überschüssigen bäuerlichen Bevölkerung auf und trug damit zu einer gewissen sozialen Entspannung auf dem Lande bei.
    Im Zuge der Agrarreform ging der Landbesitz des Adels weiter zurück. Die meisten Käufer des adligen Ackerlandes waren Bauern, von denen um 1914 10 Millionen Kredit-, Bezugs- oder Produktionsgenossenschaften angehörten. Außer Gemeindeland wurde den Bauern auch Staats- und Kronland zu günstigen Bedingungen zum Kauf angeboten. Das wohl wichtigste Ergebnis der Agrarreform war die Entstehung einer neuen Schicht wohlhabender «Stolypin-Bauern», die wie die «Kulaken» fremde Arbeitskräfte beschäftigten. Die große Mehrheit der Bauern, der «Muschiks», gehörte nicht dazu. Soweit sie nicht in der Landarmut verharrten oder sich umsiedeln ließen, verkauften sie ihr Land und wurden Arbeiter. Als 1917 die Revolution ausbrach, waren rund 30 Prozent aller russischen Bauern Grundeigentümer.
    Nimmt man die Agrarreform und den industriellen Aufschwung zusammen (Rußland stand 1913 vor Österreich-Ungarn an fünfter Stelle der Weltindustrieproduktion), so ist es gerechtfertigt, die Ära Stolypin als Zeit eines großen Modernisierungsschubs zu bezeichnen. Dasselbe Urteil drängt sich auf, wenn man die Fortschritte der Volksbildung betrachtet: Die Zahl der Schulen wuchs zwischen 1905 und 1915 von 100.000 auf 150.000; die Zahl der Analphabeten in der Armee sank zwischen 1900 und 1914 von 51 auf 27 Prozent. Auch im Bereich der Künste wirkte Rußland zu Beginn des 20. Jahrhunderts als modernes, ja avantgardistisches Land: Es war die Heimat von Malern wie Kandinsky, Jawlensky und Chagall, von Komponisten wie Strawinsky, Rimski-Korsakow und Skrjabin, von Dichtern wie Tschechow und Gorki. Zugleich gab es immer noch das zutiefst rückständige Rußland. Auf keinem Gebiet trat es auf so abschreckende Weise in Erscheinung wie im Verhältnis zu den Juden: Kurz nach dem «Oktobermanifest» von 1905 begannen Judenpogrome, die von gegenrevolutionären Terrorgruppen, den «Schwarzen Hundertschaften», organisiert wurden. Hinter diesen Gruppen stand der rechtsradikale «Bund des russischen Volkes», der enge Beziehungen zum Zarenhof, zur Polizei und den Behörden unterhielt und sich darauf verlassen konnte, daß die von ihm inspirierten Gewalttaten ohne strafrechtliche Folgen blieben oder, wenn es doch geschah, die Täter vom Zaren amnestiert wurden.
    Ein besonders blutiges Pogrom fand Anfang Juni 1906 im polnischen Bialystok, einer zu 70 Prozent von Juden bewohnten Stadt, statt. Mindestens 76 Menschen fielen ihm zum Opfer. Es war ein von örtlichen Polizisten und Soldaten unterstützter, von Stolypin aber scharf verurteilter Gewaltausbruch. Der Ministerpräsident stieß freilich mit seinen Versuchen, Pogrome zu verhindern und die Bestrafung der Täter durchzusetzen, auf unüberwindbare Hindernisse. Ein Teil des Staatsapparates versagte ihm die Gefolgschaft. Aus der russischen Polizei stammten die 1905 erstmals veröffentlichen «Protokolle der Weisen von Zion», die gefälschte Aufzeichnung eines angeblichen Geheimtreffens, auf dem Pläne für eine jüdische Weltherrschaft beschlossen worden sein sollten. Zar Nikolaus II. hielt das Machwerk für echt und machte aus seinem Verständnis für die antijüdischen Ausschreitungen keinen Hehl. Auch in der Duma fand Stolypin nur wenig Rückhalt für seine gegen die Judenfeinde gerichtete Politik. Seit 1909 arbeitete er eng mit einer neuen nationalistischen Partei, der Nationalen Union, zusammen, die ihrerseits großen Einfluß auf den rechten Flügel der Oktobristen ausübte. Die Nationalisten waren in ihrer Mehrheit entschiedene Antisemiten, die in den Juden in erster Linie wirtschaftliche Konkurrenten der russischen Handwerker, Händler und Industriellen sahen. Für eine entschieden liberale, auf die Beseitigung der Diskriminierung der Juden zielende Politik gab es in der Dritten

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