Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
wachsende nationalistische Bewegung unter den Tschechen, geführt von Politikern wie dem «Jungtschechen» Karel Kramár und dem «Nationalsozialisten» Václav Klofác, es gab die von panslawistischen Vereinigungen im Zarenreich geförderten prorussischen Sezessionsbestrebungen unter den Ruthenen des östlichen Galizien und der Bukowina; es gab die Furcht vor dem zunehmenden Widerhall der südslawischen Propaganda aus Belgrad bei Kroaten und Slowenen. Von der «österreichischen Versuchsstation des Weltuntergangs» sprach am 10. Juli 1914 der Sprach- und Kulturkritiker Karl Kraus, der Herausgeber und verantwortliche Redakteur der Zeitschrift «Die Fackel» in einem Nachruf auf Erzherzog Franz Ferdinand. Es war eine Formel, die die Stimmung der politischen und militärischen Eliten Wiens in den Wochen nach Sarajewo treffend beschrieb.
Die Entscheidung, die serbische Antwort auf das österreichische Ultimatum zurückzuweisen, markiert den «point of no return» in der Julikrise. Wien hätte diese Entscheidung nicht gegen den Willen Berlins treffen können: Von dort kamen aber nur Aufforderungen zur Härte gegen Serbien. Beide Mittelmächte waren also für die Folgen, die weitere Eskalation der Krise bis hin zum Kriegsausbruch, verantwortlich – die deutsche Seite, die bei weitem mächtigere, in noch höherem Maß als die österreichische.
Die deutsche Politik in der Julikrise war wie die österreichisch-ungarische und die russische geprägt durch den wachsenden Einfluß des Militärs. Hinter dem deutschen Militär stand eine publizistisch aktive «Kriegspartei», die sich breiter Unterstützung bei den konservativen Parteien, den Nationalliberalen, bei den nationalistischen Verbänden, dem Großgrundbesitz und der Schwerindustrie erfreute und durch die Überzeugung zusammengehalten wurde, daß Deutschland nur dann eine Zukunft hatte, wenn es den Sprung von der Großmacht zur Weltmacht wagte. Die zivile Reichsleitung stand also unter massivem Druck, als sie sich nach Sarajewo radikalen Positionen näherte, die sie bisher zurückgewiesen hatte. Zu der Angst, Deutschland werde in einigen Jahren mit der Rüstung der Mächte der Tripelentente nicht mehr mithalten können, kam die Angst vor dem scheinbar unaufhaltsamen Erstarken der Sozialdemokratie. Auf diesem Hintergrund gedieh die Stimmung des «Jetzt oder nie», die auch den zaudernden Reichskanzler von Bethmann Hollweg erfaßte und dazu brachte, Österreich-Ungarn in den Krieg mit Serbien förmlich hineinzutreiben. Daß dieser Krieg nur schwer zu lokalisieren sein würde, wußte die Reichsleitung. Sie nahm das Risiko in Kauf, weil sie aus Angst vor der Zukunft bereit war, den großen Krieg, wenn er denn kam, besser jetzt als später zu führen.
Eine derartige Kriegsbereitschaft gab es weder in Frankreich noch in England. Die französische Rechte, für die Präsident Poincaré stand, wollte unbedingt die Tripelentente erhalten, weil nur diese Schutz vor einem deutschen Angriff versprach. Einen Zerfall der Allianz hätte der Friede, so wie man die deutsche Politik in Paris einschätzte, nicht lange überlebt. Wenn Frankreich eine unabhängige Nation bleiben wollte, mußte es also seiner Bündnispflicht auch dann genügen, wenn dies Krieg bedeuten sollte. Aber noch am 31. Juli appellierte Poincaré an König Georg V., England möge sich erklären: Seiner festen Überzeugung nach werde es um so berechtigter sein, «auf die Erhaltung des Friedens zu rechnen, je mehr England, Frankreich und Rußland jetzt den stärksten Eindruck der Einigkeit in ihren diplomatischen Aktionen geben». Hätte die Mitte-Links-Regierung Viviani allein die französische Außenpolitik bestimmt, wären die Appelle zur Mäßigung, die von Paris nach St. Petersburg gingen, sicher nachdrücklicher gewesen. Ob dies den Gang der Ereignisse nach der österreichischen Kriegserklärung an Serbien noch wesentlich hätte beeinflussen können, erscheint fraglich.
Die britische Zurückhaltung während der Julikrise hatte mehrere Gründe. Ein rasches und unzweideutiges Beistandsversprechen gegenüber Paris und St. Petersburg hätte nicht nur einer alten Tradition widersprochen, sondern auch die Partner der Tripelentente zu einer Politik der Konfrontation verleiten können. Premierminister Asquith und Außenminister Grey waren seit langem davon überzeugt, daß Großbritannien auf seine Vertragspartner Frankreich und Rußland angewiesen war, wenn es der deutschen Herausforderung erfolgreich widerstehen
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