Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
Vom Netzwerk:
Befunde verallgemeinern darf, zumeist auf die Städte und die «national» gesinnten Massen, die im weitesten Sinn dem Bürgertum oder dem Kleinbürgertum zuzuordnen waren, wobei die akademische Jugend besonders stark in Erscheinung trat. Bei den Arbeitern war davon sehr viel weniger zu spüren; sie taten, wenn sie zu den Fahnen gerufen wurden, ihre Pflicht. Die Arbeiterparteien hielten ebenso wie die ihnen nahestehenden Gewerkschaften in der Regel ihr Land für das angegriffene und den vermeintlichen oder wirklichen Aggressor für reaktionär. Das galt für die deutschen Sozialdemokraten, für die Rußland die Verkörperung barbarischer Unterdrückung war, und für die französischen Sozialisten und die Mehrheit der britischen Labour Party, die im wilhelminischen Deutschland den Hort des autoritären Militarismus sahen.
    Am 4. August stimmten die SPD im Reichstag und die S.F.I.O. in der Deputiertenkammer für die von der Regierung beantragten Kriegskredite. Die Sozialdemokraten erklärten durch ihren Parteivorsitzenden Hugo Haase, der in der Fraktion gegen die Bewilligung votiert hatte, sie machten jetzt wahr, was sie immer betont hätten: «Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich.» Die S.F.I.O. nannte es in einem Aufruf vom 28. August notwendig, «daß sich die ganze Nation, für die Verteidigung ihres Bodens und ihrer Freiheit erhebt» (Il faut que … la nation entière se lève pour la défense de son sol et de sa liberté). Der Regierungschef wisse, daß wie in allen schweren Stunden, so 1793 und 1870, die Nation ihr Vertrauen in die Sozialisten und die Revolutionäre setzen könne. Einen Tag zuvor waren die Sozialisten Marcel Sembat und Jules Guesde im Zeichen der «Union sacrée» (der geheiligten Union) in die Regierung Viviani eingetreten. Das deutsche Gegenstück zur «Union sacrée», der «Burgfriede», schloß vorläufig noch keine sozialdemokratische Regierungsbeteiligung ein. Aber die «vaterlandslosen Gesellen» von gestern waren nun erstmals umworbene Partner einer Regierung, die ohne diese Unterstützung größte Schwierigkeiten gehabt hätte, den Krieg an der «Heimatfront» erfolgreich zu führen.
    Auch in Österreich verhielt sich die sozialdemokratische Parteiführung, ungeachtet der Ausschaltung des Reichsrats (und seit dem 25. Juli auch der cisleithanischen Landtage), der Zensur und der Beschränkungen der Versammlungsfreiheit, «patriotisch». Eine entschiedene Antikriegspolitik betrieben hingegen, trotz massiver staatlicher Unterdrückung, die russischen Bolschewiki. Ihre Abgeordneten verließen am 8. August 1914 vor der Abstimmung über die Kriegskredite nach Verlesung einer scharfen Protesterklärung den Plenarsaal. Im November 1914, drei Monate nach dem Zerfall der Zweiten Internationale, warf Lenin von seinem Schweizer Exil aus den westeuropäischen und vor allem den deutschen Sozialdemokraten «Verrat an der Sache des Sozialismus» und Ersetzung des Sozialismus durch den Nationalismus vor. «Die Umwandlung des gegenwärtigen imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg ist die einzig richtige proletarische Lösung, wie sie aus der Erfahrung der Kommune hervorgeht, wie sie in der Basler Resolution (1912) niedergelegt ist und wie sie sich aus allen Bedingungen des imperialistischen Krieges zwischen hochentwickelten bürgerlichen Ländern ergeben muß.»
    In Wirklichkeit war es so, daß die sozialdemokratischen Parteien des Westens keinen Krieg so sehr fürchteten wie den Bürgerkrieg. Gerade weil es sich um Parteien «hochentwickelter bürgerlicher Länder» handelte, gab es viel, was die Sozialdemokraten und ihre Anhänger an ihre Staaten band: verbürgte Freiheitsrechte, organisatorische Spielräume und nicht zuletzt das, was sie an sozialen Errungenschaften bereits erkämpft hatten. Ein Bürgerkrieg hätte all das gefährdet, ja womöglich vernichtet, während man vom zeitweiligen Zusammengehen mit den bürgerlichen Kräften weitere politische und soziale Fortschritte erhoffen durfte. Den Bolschewiki im rückständigen Zarenreich mochte es leicht fallen, vom Bürgerkrieg zu reden und auf die Niederlage des eigenen Landes zu setzen, wie Lenin es tat. Für die Arbeiterparteien des Westens, einschließlich Deutschlands, war weder das eine noch das andere eine Option: Darin lag der fundamentale Ost-West-Gegensatz innerhalb der Arbeiterbewegung.
    In seinem Aufsatz «Der Imperialismus», den er vor dem Kriegsausbruch schrieb und danach noch ergänzte, hat

Weitere Kostenlose Bücher