Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Jahre später, 1797, in der «Rechtslehre» der «Metaphysik der Sitten» ausdrücklich ein «repräsentatives System des Volkes» forderte, ging er einen entscheidenden Schritt über den aufgeklärten Absolutismus hinaus. Dasselbe galt von seiner Befürwortung einer Staatsverfassung, «wo das Gesetz selbstherrschend ist und an keiner besonderen Person hängt». Da Kant jedoch auf gesetzlichen Reformen bestand und gewaltsamen Revolutionen tunlichst vorbeugen wollte, war der eigentliche Adressat seiner Postulate für ihn derselbe wie für die anderen deutschen Spätaufklärer: der bestehende Staat des aufgeklärten Absolutismus.[ 17 ]
Vor die Wahl gestellt, sich entweder für den französischen oder den englischen Weg zur überwindung des Absolutismus zu entscheiden, hätten die aufgeklärten Köpfe Deutschlands gewiß, dem Beispiel Wielands folgend, der zweiten Möglichkeit den Vorzug gegeben. Für diese Vermutung spricht auch der große Erfolg, den die «Reflections on the Revolution in France» des britischen Publizisten und Politikers Edmund Burke in Deutschland hatten. Burke, 1729 als Sohn eines anglikanischen Anwalts aus England und einer katholischen Irin in Dublin geboren, gehörte seit 1765 als Whig dem Unterhaus an. In den siebziger Jahren war er ein beredter Fürsprecher der Rechte der amerikanischen Kolonisten und ein entschiedener Gegner der offiziellen britischen Politik. Seine Schrift über die Französische Revolution verfaßte und veröffentlichte er im Jahre 1790. Eine meisterhafte deutsche Übersetzung aus der Feder von Friedrich Gentz, einem Schüler Kants, erschien 1793.
Burke maß die jüngste Entwicklung Frankreichs an den Maßstäben der englischen Geschichte und gelangte zu einem vernichtenden Urteil. Sein Buch wurde rasch zu einer Art Manifest der europäischen Konservativen, und er selbst wandelte sich im Gefolge seiner Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution immer mehr vom Whig zum Tory: 1791 überwarf er sich mit seinen bisherigen politischen Freunden, angeführt von Charles Fox, dem parlamentarischen Führer der Liberalen, der den Bastillesturm das größte Ereignis der Weltgeschichte genannt hatte, und wechselte schließlich mit der Mehrheit der Oppositionsabgeordneten ins Regierungslager, wo er den Premierminister, William Pitt den Jüngeren, unablässig zum Krieg gegen das revolutionäre Frankreich drängte.[ 18 ]
Wahrscheinlich wären Burkes «Betrachtungen über die Revolution in Frankreich» gar nicht zu Papier gebracht worden, hätte es in Großbritannien nicht eine neugegründete «Revolutionsgesellschaft» und einen nonkonformistischen Theologen namens Dr. Richard Price gegeben, die ihre Landsleute für die Ideen von 1789 gewinnen wollten. Nach Burkes Meinung konnte England von Frankreich nur lernen, wie man es nicht machen sollte, während die Franzosen allen Anlaß gehabt hätten, die Erfahrungen Englands mit politischer Repräsentation, Freiheit und Gewaltenteilung zu beherzigen. Eine Staatsverwaltung müsse äußerst heruntergekommen und verderbt sein, ehe man es wagen dürfe, an einen gänzlichen Umsturz zu denken. «Wenn dieser jammervolle Zustand gekommen ist, dann geben die Symptome der Krankheit auch selbst die Arznei an, klar und verständlich genug für die, welche die Natur ausrüstete, in verzweifelten Nöten diesen letzten, gefahrvollen bitteren Trank dem zerrütteten Staat durchzureichen.»
Eine Revolution war die «äußere, letzte Zuflucht des Denkenden und des Guten» (the very last resource of the thinking and the good): Das galt für Großbritannien ebenso wie für Frankreich. In England war alles erblich, die Krone wie der Reichsadel, aber auch das Unterhaus und das Volk hatten erbliche Privilegien, Rechte und Freiheiten, die von einer langen Reihe von Vorfahren, bis zurück zur Magna Charta Libertatum von 1215, stammten. «Dieses System ist das Resultat eines tiefen Nachdenkens, oder besser, es ist der glückliche Lohn derer, die im Weg der Natur wandeln, auf welchem Weisheit ohne tiefes Nachdenken und höher als alles Nachdenken liegt.»
In Frankreich waren Burke zufolge die alten Privilegien zwar unterbrochen, aber nicht für immer verloren. Die alten Stände hatten Vorteile, an die man hätte anknüpfen können. Ludwig XVI. war kein Tyrann, sondern ein milder und rechtmäßiger Monarch; der französische Adel hatte keine Abstrafung verdient. Der englische Weg der stetigen Reform wäre also nach Burkes Meinung auch für die Franzosen
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