Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Gemäßigten und die Stärkung der Radikalen sehr wohl.
Im Hinblick auf das, was folgte, wäre die Absetzung Ludwigs XVI. nach der Flucht nach Varennes im Juni 1791 gewiß «besser» gewesen als die Entthronung im Jahr darauf. Aber zwei Jahre nach dem Bastillesturm war Frankreich noch nicht so weit, sich vom Königtum zu verabschieden, und eine in diesem Fall sehr wahrscheinliche Intervention der konservativen europäischen Mächte, auf die das Land weder politisch noch militärisch vorbereitet war, hätte von den Errungenschaften der Revolution wohl nur wenig übriggelassen. Die Girondisten brachen den ersten Koalitionskrieg, zu dem Österreich und Preußen keinerlei zwingenden Grund geboten hatten, leichtfertig vom Zaun. Robespierre stand mit seinen Warnungen vor dem Krieg um die Jahreswende 1791/92 nahezu isoliert da. Doch nachdem der Krieg begonnen hatte und das Doppelspiel des Königs und mancher Generäle immer offenkundiger wurde, lag nichts näher als ein patriotischer Ruck nach links, verbunden mit einer Gewichtsverlagerung von den höheren und mittleren zu den unteren Schichten der Gesellschaft.
Das neue französische Nationalbewußtsein hatte die militärischen Niederlagen vom Frühjahr 1792 nicht nur überdauert, es war durch sie verstärkt worden. Der Bruch mit der Monarchie war überfällig, der politische und soziale Inhalt der Republik aber noch nicht festgelegt, als der Konvent am 21. September 1792 den Übergang zur neuen Staatsform beschloß. Sicher war nur, daß die zweite Revolution, die im Sommer 1792 begonnen hatte, mit der Wahl des Konvents ihr Ende noch längst nicht erreicht hatte.[ 13 ]
Gespaltenes Echo: Die Rezeption der Revolution in Deutschland und England
Die Begeisterung, die die Pariser Ereignisse vom Juli und August 1789 jenseits der französischen Grenzen hergerufen hatten, war bei vielen der wohlwollenden Beobachter nur von kurzer Dauer. Die ersten kritischen Stimmen meldeten sich bereits nach der öffentlichen Demütigung Ludwigs XVI. in Versailles und auf dem Weg von dort nach Paris am 5. und 6. Oktober zu Wort. In Deutschland rügte der Dichter Christoph Martin Wieland, ein ebenso scharfsinniger wie einflußreicher Publizist und ein früher Sympathisant der Revolution, die Entmachtung des Königs, weil sie mit dem gehörigen Gleichgewicht der gesetzgebenden, der richterlichen und der vollziehenden Gewalt nicht vereinbar sei.
Die Frage, auf die nach seiner Meinung nur die Zeit die wahre Antwort geben konnte, lautete: «Wird die neue Ordnung, die aus diesem Chaos – wenn endlich einmal Deus et melior natura (Gott und die bessere Natur, H.A.W.) die Oberhand gewinnen – entspringen wird, die unzähligen Wunden, welche der demokratische Kakodämon der freiheitstrunkenen Nation geschlagen hat, bald und gründlich genug heilen können, um als Vergütung so vielen übels angesehen zu werden?»
Sieben Monate später, im Mai 1790, sah sich Wieland dann zu der Feststellung genötigt, daß in ganz Deutschland die Anzahl derjenigen immer größer werde, die glaubten, die französische Nationalversammlung «gehe in ihren Anmaßungen viel zu weit, verfahre ungerecht und tyrannisch, setze einen demokratischen Despotismus an die Stelle des aristokratischen und monarchischen, reize durch übereilte und unweise Dekrete auf der einen und durch faktiöse (vom Parteigeist geprägte, H.A.W.) Aufhetzungen auf der anderen Seite das verblendete und aus dem Taumelkelch der Freiheit berauschte Volk zu den entsetzlichsten Ausschweifungen …».
Als die Konstituante im Juni 1790 den erblichen Adel mit allen Titeln und Vorrechten abschaffte, legte Wieland öffentlich Protest ein. Zwar nenne er noch immer die «unternommene Befreiung einer großen Nation von dem eisernen Despotismus einer in die unerträglichste Aristokratie ausgearteten monarchischen Regierung» die «ruhmwürdigste aller Unternehmungen». Aber so werde er nie das Unternehmen nennen, «statt einer (nach dem Beispiel der englischen Konstitution) durch hinlänglich sicher gestellte Rechte des Volkes in ihre wahren Grenzen eingeschränkten Monarchie eine ungeheure, unendlich verwickelte, unbehülfliche und unsichere Demokratie aufzustellen …». Dieser Versuch schien dem Autor schon deswegen verwerflich, weil er überzeugt war, daß ein anderer Weg auch in Frankreich gangbar gewesen wäre: «Unstreitig hätte mit dem Adel, so gut als mit dem Hofe und der Klerisei, diejenige Reformation vorgenommen werden sollen, die zum allgemeinen
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