Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
begehbar gewesen. «Doch es gefiel ihnen besser, zu verfahren, als ob sie noch nie in bürgerlicher Vereinigung gelebt hätten, als finge alles bei ihnen von neuem an.»
Der Grund dieser Verwirrung, die Frankreich an den Rand des Abgrunds brachte, war ein Mangel an praktischer Bildung. Die Mitglieder der Nationalversammlung waren bestenfalls bloße Theoretiker, meist aber nur Juristen aus der Provinz, ein «ganzes Heer von Prozeßstiftern und Rädelsführern in den winzigen Plackereien der Dorfkriege» – Gleichheitsapostel, die nichts besseres zu tun wußten, als die natürliche Ordnung der Dinge zu verändern und zu verkehren und alle Macht in die Hände der niedrigsten Volksklassen zu legen. «In Frankreich ist die Regierung nicht in den Händen der Eigentümer. Mithin ist die Vernichtung des Eigentums unvermeidlich und vernünftige Freiheit verschwunden.»
Von natürlichen, angeborenen Menschenrechten wollte Burke nichts wissen. Die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft waren Verträge, und diese Verträge mußten deshalb ihre Grundsätze und die Formen und Grenzen jeder Staatsverfassung sein. Die wahren Menschenrechte waren also nicht naturrechtlich begründet, sondern erworbene, durch Vertrag festgelegte Rechte. «Der Mensch kann nicht die Rechte des ungeselligen und des geselligen Zustandes zu gleicher Zeit genießen … Die Rechte des Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft können nichts anderes sein als seine wahren Vorteile, und diese ergeben sich gewöhnlich nur aus einer sehr mühsamen Vergleichung zwischen Gewinn und Verlust, zuweilen zwischen Verlust und Verlust.» Für schwärmerische Freiheitsreden hatte Burke folglich nicht das geringste Verständnis. «Ich gestehe es frei: Ich habe dieses beständige Geschwätz von Widerstand und Revolution immer gehaßt, ich kann es nicht ertragen, daß man die letzte Arznei des Staates in sein tägliches Brot zu verwandeln sucht … Diese Leute sind so voll von ihren Theorien über die Rechte des Menschen, daß sie seine Natur gänzlich vergessen haben.»
Das konservative Credo des Autors erreichte seine größte Verdichtung in den Worten: «Ich muß menschliche Gebrechen so lange ertragen, bis sie zu Verbrechen heranwachsen (I must bear with infirmities until they fester into crimes) … Ich begreife nicht, wie es irgendein Mensch bis zu einer solchen Raserei gebracht haben kann, daß er sein Vaterland wie ein weißes Stück Papier ansieht, worauf er kritzeln kann, was ihm beliebt. Ein Patriot und ein wahrer Staatsmann sucht allemal aus dem schon vorhandenen Stoff, den ihm sein Vaterland darbietet, so viel zu machen als möglich ist. Neigung zum Erhalten und Geschicklichkeit zum Verbessern sind die beiden Elemente, deren Vereinigung in meinen Augen den Charakter eines großen Staatsmannes bildet.» (A disposition to preserve, and an ability to improve, taken together, would be my standard of a statesman.)[ 19 ]
Da die Franzosen von diesen Einsichten nichts hatten wissen wollen, war für die Zukunft des Landes mit dem Schlimmsten zu rechnen. Die Einziehung der Kirchengüter war nach Burkes Einschätzung nur ein vorbereitender Schritt zur gänzlichen Abschaffung der christlichen Religion. (Daß in England König Heinrich VIII. schon zweieinhalb Jahrhunderte zuvor den Besitz der katholischen Kirche konfisziert hatte, ließ der entschiedene Verteidiger des anglikanischen Staatskirchentums unerwähnt.) Gefahr drohte Burke zufolge auch von dem Obersten Tribunal, einer Art Nationalgericht, wie die Konstituante es anstrebte. «Wenn man nicht mit äußerster Sorgfalt von diesem Tribunal den Geist, der bisher in allen Prozeduren gegen Staatsverbrecher gewaltet hat, zu entfernen sucht, so wird es in Vereinigung mit dem Untersuchungsausschuß (der Nationalversammlung, H.A.W.) die letzten Funken von Freiheit, die noch in Frankreich glimmen mögen, auslöschen und die schreckensvollste Tyrannei herbeiführen, die je in irgendeinem Lande gewütet hat.»
Eine andere Gefahr bildete nach der weitgehenden Entmachtung des Königs das politisierte Militär. Einem erfolgreichen Offizier blieb künftig nichts übrig, als sich die Folgsamkeit seiner Soldaten durch Wahl- und Volkskünste zu sichern. Er mußte sich wie ein Kandidat, nicht wie ein Befehlshaber betragen. «Unter der Ohnmacht eines Teiles der Regierung und dem Schwanken aller anderen Teile werden sich die Offiziere dieser Armee eine Zeitlang mit einzelnen Empörungen und Meutereien begnügen, bis irgendein
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