Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
älteren preußischen und österreichischen Vorbildern des späten 18. Jahrhunderts und wie dort ausgeführt von einer reformerisch gesinnten Bürokratie. Eine wichtige Rolle spielte dabei der Code Napoléon. Auf seine Einführung hatte der Kaiser der Franzosen massiv gedrängt. Die Widerstände waren allerdings so stark, daß man im Ergebnis, abgesehen von Baden, nur von einer Teilrezeption sprechen kann. Der tiefere Grund dieser zwiespältigen Bilanz liegt dort, wo ihn die Historikerin Elisabeth Fehrenbach gesehen hat: in der «Konfrontation eines revolutionären Gesetzbuches mit einer vorrevolutionären Rechts- und Gesellschaftsordnung».
Sehr viel weiter als im Rheinbund gingen die gesellschaftlichen Veränderungen in den von Frankreich annektierten linksrheinischen Gebieten. Der Code Napoléon wurde hier ohne Abstriche eingeführt; er galt bis zum Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches am 1. Januar 1900. Das neufranzösische Gebiet übernahm von Frankreich die Verwaltungsorganisation mitsamt der Einteilung in Departements, die Prozeßordnung und die Gerichtsverfassung. Zu den revolutionären Neuerungen gehörte auch die staatsbürgerliche Gleichberechtigung der Juden. Was für das linke Rheinufer galt, traf auch für diejenigen Gebiete Deutschlands zu, in denen Angehörige der Familie Bonaparte regierten: das Großherzogtum Berg unter Napoleons Schwager Murat und das 1807, nach dem Sieg über Preußen, geschaffene Königreich Westfalen mit der Hauptstadt Kassel, in der Jérôme, der jüngste Bruder des Kaisers, residierte.
Berg und das Königreich Westfalen waren die beiden «Musterländer» unmittelbarer napoleonischer Herrschaft in Deutschland. Doch gerade hier traten die Folgen eines unauflösbaren Konflikts zweier sich widersprechender Ziele in Erscheinung: Die gesellschaftspolitischen Zielsetzungen Napoleons vertrugen sich nicht mit den Maßnahmen, die er traf, um seine Herrschaft dauerhaft abzusichern. Wenn sie die Unterstützung der Bürger und Bauern gewinnen wollten, mußten die Napoleoniden nach französischem Vorbild die feudalen Strukturen zerstören. Das taten sie auch, aber den Nutzen hatte nicht die einheimische Bevölkerung, sondern andere. Der Kaiser der Franzosen brauchte den enteigneten Grund und Boden, um seinen siegreichen Heerführern zu Land zu verhelfen und der neuen «noblesse impériale» eine materielle Basis zu geben. Da ihm das zweite Ziel sehr viel wichtiger war als das erste, enttäuschte Napoleon alle, die gehofft hatten, er werde den ursprünglichen Ideen von 1789, einem vom jakobinischen Terror gereinigten Fortschritt also, in ganz Europa zum Durchbruch verhelfen.
Doch selbst wenn Napoleon konsequent als politischer und gesellschaftlicher Reformator aufgetreten wäre, hätte ihn das in den Augen vieler Deutschen nicht von dem Makel des Fremdherrschers befreit. «Deutschland in seiner tiefsten Erniedrigung» war der Titel einer anonymen, gegen den Kaiser der Franzosen gerichteten Flugschrift, die 1806 von dem Nürnberger Buchhändler Johann Philipp Palm verbreitet wurde. Er mußte die patriotische Tat teuer bezahlen. Auf Befehl Napoleons wurde Palm von einem französischen Kriegsgericht zum Tode verurteilt und am 26. August 1806 in Braunau am Inn erschossen. Der deutsche Nationalismus hatte seinen ersten Märtyrer.[ 30 ]
Lernen aus der Niederlage: Die preußischen Reformen
Mehr noch als die Exekution Palms erschütterte ein anderes Ereignis des Jahres 1806 die patriotisch empfindenden Deutschen: der Zusammenbruch Preußens. Nach langem Schwanken hatte sich der Hohenzollernstaat im August zur Mobilmachung entschlossen. Vorausgegangen waren Meldungen über französisch-britische Geheimverhandlungen, in denen Napoleon London eine Rückgabe Hannovers angeboten hatte, und, als Berliner Antwort darauf, den Abschluß einer geheimen Allianz zwischen Preußen und Rußland. Nach einem Austausch von Ultimaten erklärte König Friedrich Wilhelm III. Frankreich am 9. Oktober den Krieg. Fünf Tage später brachte Napoleon den preußischen Truppen in der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt eine vernichtende Niederlage bei. Nur zwei Wochen danach, am 27. Oktober 1806, zog der Kaiser, von Teilen der Bevölkerung freundlich begrüßt, in Berlin ein. Friedrich Wilhelm III. und seine im Volk sehr beliebte Frau, die Königin Luise, waren zuvor nach Königsberg geflüchtet.
In den folgenden Wochen kapitulierten die preußischen Festungen bis auf Danzig, Graudenz und das bald zur Legende
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