Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
gewordene Kolberg; französische Truppen drangen über Warschau hinaus in den Teil Polens vor, der 1795 bei der dritten Teilung des Landes an Preußen gefallen war; im südlichen Schlesien konnten sich die Preußen zunächst gegenüber den Verbänden des Rheinbundes behaupten. Eine Schlacht, bei der die Franzosen unter Führung Napoleons gegen ein preußisches Armeekorps Anfang Februar 1807 bei Preußisch-Eylau antraten, ging unentschieden aus. Das Ende des preußisch-russisch-französischen Krieges, des Vierten Koalitionskrieges, brachte erst die schwere Niederlage, die Napoleon am 14. Juni 1807 den Russen bei Friedland in Ostpreußen zufügte.
Am 7. Juli wurde in Tilsit nicht nur der Friede zwischen Frankreich und Rußland, sondern auch ein Bündnis zwischen beiden Mächten geschlossen. Rußland erhielt freie Hand gegenüber dem schwedischen Finnland, das zwei Jahre später, im September 1809, nachdem Rußland Schweden in einem kurzen Krieg besiegt hatte, als Großfürstentum einen autonomen Status im Zarenreich erhielt. Rußland konnte sich sogar ein bislang preußisches Stück aus der polnischen Teilungsmasse, das Gebiet um Bialystok, sichern. Aus den Gebieten, die bei der zweiten und dritten Teilung Polens 1773 und 1795 an Preußen gefallen waren, wurde ein Herzogtum Warschau gebildet, das in Personalunion mit Sachsen verbunden wurde: eine schwere Enttäuschung für die Polen, die in Napoleon den Befreier ihres Landes gesehen und zu Tausenden an seiner Seite gegen Preußen und Russen gekämpft hatten.
Der große Verlierer des Vierten Koalitionskrieges war Preußen. Die Armee, deren Ruhm auf den Leistungen der friderizianischen Zeit beruhte, war geschlagen; der Staat lag in Trümmern. In Tilsit mußte Preußen am 9. Juli 1807 sein gesamtes westelbisches Territorium an das neue Königreich Westfalen abgeben, dem außerdem Hannover, Braunschweig und Kurhessen einverleibt wurden. Aus Danzig wurde ein Freistaat unter französischem Schutz. Der Netzedistrikt, der seit der ersten Teilung Polens im Jahre 1772 zu Preußen gehörte, wurde zusammen mit der preußischen Beute aus den beiden folgenden Teilungen dem Herzogtum Warschau zugeschlagen. Eine Großmacht war dieses Preußen nicht mehr. Daß es den Krieg von 1806/07 als Staat überlebte, verdankte es dem hartnäckigen Einsatz Alexanders I. zugunsten seines bisherigen Verbündeten.
Die Niederlage war eine Katastrophe für den Staat, der erst vier Jahrzehnte zuvor unter Friedrich dem Großen in den Kreis der großen europäischen Mächte aufgestiegen war. Doch offenbar bedurfte es der Erfahrung des militärischen und politischen Zusammenbruchs, um Kräfte freizusetzen, die zur Erneuerung Preußens fähig und entschlossen waren. Die moralische Reservearmee, die nach 1806 das Werk der inneren Reformen in Angriff nahm, bestand zu einem großen Teil aus Wahlpreußen: Der Reichsfreiherr Karl vom und zum Stein, leitender Minister in den Jahren 1807 und 1808, entstammte einem im Nassauischen ansässigen reichsritterlichen Geschlecht; der politisch bedeutendere langjährige Staatskanzler Karl August von Hardenberg war Hannoveraner; der Militärreformer Gerhard Scharnhorst, der sich in der Schlacht von Preußisch-Eylau rühmlich hervorgetan hatte, kam aus einer niedersächsischen Bauern- und Soldatenfamilie; der Feldmarschall Neidhardt von Gneisenau, der Verteidiger von Kolberg, wurde im sächsischen Schildau geboren. Aus Preußen stammten zwei andere Militärreformer: der in Magdeburg geborene General Carl von Clausewitz, der mit seinem (unvollendet gebliebenen) Buch «Vom Kriege» als Kriegstheoretiker Weltruhm erlangte, und der Kriegsminister der Jahre 1814 bis 1819, Hermann von Boyen, ein gebürtiger Ostpreuße.
Im Jahre 1799 hatte der preußische Minister Karl Gustav von Struensee, ein Bruder des 1772 hingerichteten leitenden dänischen Ministers Johann Friedrich von Struensee, einem französischen Besucher gegenüber prophezeit: «Die Revolution, welche ihr von unten nach oben gemacht habt, wird sich in Preußen langsam von oben nach unten vollziehen … In wenigen Jahren wird es in Preußen keine privilegierte Klasse mehr geben.»
Um nichts Geringeres als eine Revolution von oben ging es den Reformern um Stein und Hardenberg. Ihr erstes großes Werk war das Edikt vom 7. Oktober 1807, das die Erbuntertänigkeit der Bauern zum Martinstag, dem 11. November, des Jahres 1810 aufhob. Die «Bauernbefreiung» hatte weitreichende Folgen, aber sie führte nicht zu einer
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