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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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in den Jahren 1811 und 1812 zogen gerade die reformfreundlichen Beamten den Schluß, eine ständische Vertretung werde die Erneuerung Preußens eher behindern als vorantreiben. Das Verfassungsversprechen, das Friedrich Wilhelm III. in seinem Finanzedikt vom 27. Oktober 1810 abgegeben hatte, wurde infolgedessen nicht eingelöst.
    Die preußischen Reformen eine «Revolution von oben» zu nennen, könnte also übertrieben erscheinen. Wenn man indes den Durchbruch zur industriellen Produktionsweise zu ihren mittelbaren Folgen rechnet, wofür manches spricht, läßt sich dem Begriff dennoch einiges abgewinnen. In jedem Fall vollzog sich in Preußen nach 1807 ein Erneuerungsprozeß, der die Leistungen des aufgeklärten Absolutismus bei weitem übertraf. Die süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg und Baden entwickelten sich zwar sehr viel früher als die Hohenzollernmonarchie zu Verfassungsstaaten. Aber Preußen erlebte eine Modernisierung der Gesellschaft durch den Staat, die wesentlich dazu beitrug, daß ihm nach 1820 die wirtschaftliche Führungsrolle in Deutschland zufiel. Die Judenemanzipation ging nur in den linksrheinischen Gebieten und im Königreich Westfalen weiter als in Preußen; die meisten deutschen Staaten gewährten den Juden die staatsbürgerliche Gleichberechtigung erst in den 1860er Jahren. Die Gewerbefreiheit kannte Preußen seit 1811; in Österreich setzte sie sich erst 1859, in den Mittelstaaten noch später, in den 1860er Jahren, durch. Auch beim Freihandel war der Staat der Hohenzollern ein Vorreiter: Außer Baden verschrieb sich kein anderer deutscher Staat diesem außenwirtschaftlichen Gegenstück zur Gewerbefreiheit so früh und so entschieden wie Preußen.
    Daß mehr Mitbestimmung der Gesellschaft weniger sozialen Wandel bedeutet hätte, wurde nach 1812 Überzeugung des preußischen Reformbeamtentums, das sich selbst als den einzig wahren allgemeinen Stand zu sehen begann. Ein Wahlpreuße aus Stuttgart, der seit 1818 an der Berliner Universität lehrte, lieferte in seiner Rechtsphilosophie die theoretische Begründung dieses längst zur Praxis gewordenen Selbstverständnisses. Der Staat als «Wirklichkeit der sittlichen Idee»: In diesem Verdikt Hegels konnten sich alle wiedererkennen, die als hohe Beamte dem preußischen Staat dienten und ihn verkörperten.[ 31 ]
    Fichte, Jahn, Arndt: Die Entstehung des deutschen Nationalismus
    Hegel gilt zu Recht als der Begründer der neueren preußisch-deutschen Staatsideologie. Der wichtigste unter den Schöpfern des deutschen Nationalismus aber war ein anderer Philosoph des deutschen Idealismus: der Gründungsrektor der Berliner Universität, Johann Gottlieb Fichte. Er stammte aus Rammenau in der sächsischen Oberlausitz, wo er 1763 als Sohn eines Webers zur Welt kam; wie Hegel war also auch er kein geborener Preuße. Aufsehen erregte er zuerst 1793 mit einer anonym veröffentlichten Verteidigung der Französischen Revolution und wenig später mit Thesen über die Identität von Gott und moralischer Weltordnung, die ihm den Vorwurf des Atheismus einbrachten und den Verlust seiner Professur im sachsen-weimarischen Jena nach sich zogen.
    Im Jahre 1800 erschien eine dem preußischen Minister von Struensee zugeeignete Schrift Fichtes unter dem Titel «Der geschlossene Handelsstaat». Es war ein Plädoyer für einen auf öffentlichem Eigentum und umfassendem Zunftzwang aufgebauten, nach außen sich abschottenden Staat, der, um seine wirtschaftliche Unabhängigkeit zu sichern, sich auch mit kriegerischen Mitteln bis zu seinen «natürlichen Grenzen» ausdehnen durfte – oder auf diese beschränken mußte. In seinen 1806 vorgelegten «Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters» bekannte Fichte sich zu einem republikanischen Vernunftstaat, in dem einerseits die bürgerliche Freiheit für alle gewährleistet war, andererseits jeder Bürger sich mit allen seinen Kräften ebendiesem Staat unterzuordnen hatte.[ 32 ]
    Zu einem politischen Paukenschlag aber wurden erst die «Reden an die deutsche Nation», die Fichte im Winter 1807/08 in Berlin hielt und 1808 in Buchform veröffentlichte. Die «Reden» sind das Manifest des deutschen Nationalismus – eines modernen Nationalismus, sofern für diesen die systematische Umdeutung von religiösen Bindungen in nationale Loyalität, also Säkularisierung, typisch ist. Fichte erklärte die Deutschen zum sittlich höchsten Volk und schrieb ihnen eine historische Sendung zu, die nichts Geringeres bedeutete als die geistige

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