Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
beantwortete. Österreich verletzte das Reichsrecht durch die Proklamation des Kaisertums Österreich im Oktober 1804 und erneut am 6. August 1806: Die Auflösung des Reiches hätte die Zustimmung des Reichstags verlangt und nicht vom Kaiser allein verfügt werden dürfen. Nicht minder reichsfeindlich verhielt sich das «dritte Deutschland»: Die Staaten des Rheinbundes versetzten dem Reich durch die Bildung eines Staatenbundes unter dem Protektorat Napoleons den Todesstoß.
Spurlos konnte das Reich freilich nicht untergehen. Wenn man es mit der Kaiserkrönung Ottos des Großen im Jahre 962 beginnen ließ, hatte es 844 Jahre bestanden. Die Erinnerung an seine Glanzzeit im hohen Mittelalter war ebenso lebendig wie die an die Zeit des Niedergangs in den Jahrhunderten danach, vor allem nach dem Dreißigjährigen Krieg. Als Schutzmacht der einen christlichen Kirche hatte das mittelalterliche Reich eine übernationale, europäische, ja universale Sendung für sich beansprucht, und dieser Gedanke wirkte in weltlicher Form nach: als Idee einer besonderen weltbürgerlichen Berufung der Deutschen. 1796, zehn Jahre vor dem Untergang des Alten Reiches, hatten Goethe und Schiller in den «Xenien» gemahnt:
Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es,
Deutsche, vergebens;
Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu
Menschen euch aus!
Fünf Jahre später, 1801, schrieb Schiller in seinem Fragment «Deutsche Größe», die «Majestät der Deutschen» habe nie auf dem Haupt seiner Fürsten geruht. «Abgesondert von dem politischen hat der Deutsche sich einen eigenen Wert gegründet, und wenn auch das Imperium unterginge, so bliebe die deutsche Würde unangefochten. Sie ist eine sittliche Größe, sie wohnt in der Kultur und im Charakter der Nation, die von ihrem politischen Schicksal unabhängig ist … Indem das politische Reich wankt, hat sich das geistige immer fester und vollkommener gebildet.»
Selbst eine so altertümliche Legende wie die, daß das Reich der Deutschen das vierte und letzte der Weltreiche sei und daß, solange dieses bestehe, der Antichrist nicht zur Herrschaft über die Welt gelangen werde, war nicht schon dadurch erledigt, daß es das Reich seit 1806 nicht mehr gab. Wann immer es galt, das «Böse» zu bekämpfen, lag der Rückgriff auf diesen Gedanken nahe, und mit ihm der Wunsch, das Reich der Deutschen neu erstehen zu lassen. Von einem Reichsmythos konnte man 1806 zwar noch nicht sprechen. Aber es gab den Stoff, aus dem sich ein solcher Mythos entwickeln ließ, wenn es die Umstände erlaubten oder zu erfordern schienen. Und nicht wenige Deutsche hofften anders als die Klassiker in Weimar schon zu der Zeit, als Napoleon auf der Höhe seiner Macht stand, auf eine neue Art von deutscher Einheit – einen wirksameren Zusammenschluß als den, den das Alte Reich hatte verbürgen können.
Manche Zeitgenossen erwarteten ausgerechnet vom Rheinbund, der so viel zur Auflösung des Reiches beigetragen hatte, er werde an die Traditionen des Heiligen Römischen Reiches anknüpfen und zumindest dem «dritten Deutschland», in dem viele das eigentliche Deutschland sahen, zu einem schützenden Dach verhelfen. Tatsächlich wollte der faktisch von Napoleon eingesetzte Fürstprimas des Rheinbundes, der letzte Kurerzkanzler des Alten Reiches, Karl Theodor von Dalberg, dem Rheinbund gern handlungsfähige gemeinsame Einrichtungen geben, was auch Napoleon für sinnvoll hielt. Aber gerade die größten Mitglieder des Bundes, Bayern und Württemberg, lehnten alles ab, was auch nur entfernt an das untergegangene Reich erinnerte. Eine starke Bundesgewalt hätte ihren neugewonnenen Handlungsspielraum wieder eingeschränkt. Aus dem rheinischen Staatenbund konnte infolgedessen kein rheinischer Bundesstaat werden.
Die innere Entwicklung der Rheinbundstaaten läßt sich am besten im Begriff des Modernisierungsschubs zusammenfassen. Im Gefolge des Reichsdeputationshauptschlusses und des Friedens von Preßburg hatten die größeren unter ihnen Gebiete hinzugewonnen, deren Bevölkerung eine andere Konfession hatte als die der Stammlande: In Bayern waren das evangelische, in Württemberg katholische Gebiete; im gemischtkonfessionellen Baden führte die Angliederung des zuvor vorderösterreichischen Breisgau zu einem eindeutigen Übergewicht der Katholiken. Die neuen Landesteile zu integrieren erforderte gewaltige Anstrengungen. Sie lösten eine Art nachholende Revolution von oben im Stil des aufgeklärten Absolutismus aus: orientiert an den
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