Geschichte des Westens
ein, die mehr als 200 Kilometer östlich der Curzon-Linie verlief. Pinsk, Lemberg und Tarnopol gehörten nunmehr zu Polen, aber damit auch Gebiete mit einer weißrussischen und ukrainischen Bevölkerung, die sich zur orthodoxen oder griechisch-unierten Kirche bekannte. «Mittel-Litauen», das von Polen, Litauern und Juden bewohnte Gebiet um Wilna, wurde, nachdem Vermittlungsversuche des Völkerbundsrates gescheitert waren, im März 1922 mit Polen vereinigt. Litauen, das in Wilna seine historische Hauptstadt sah, weigerte sich, diesen einseitigen Akt anzuerkennen. Zwischen beiden Staaten gab es infolgedessen keine diplomatischen Beziehungen. Den Zustand ihres Verhältnisses werteten beide Seiten zutreffend als «weder Krieg noch Frieden».
Von den 27 Millionen Bewohnern Polens in den Grenzen von 1922/23 bekannten sich nur 19 Millionen oder rund 70 Prozent zur polnischen Nationalität. 4 Millionen waren ethnische Ukrainer, mehr als 2 Millionen Deutsche und Weißruthenen. Dazu kamen kleinere Gruppen von Russen, Tschechen und Tataren. Das Polen von 1923 war kein «Nationalstaat» mehr, sondern, wie der Historiker Hans Roos urteilt, ein «ausgesprochener Nationalitätenstaat». Es war von Gegnern umzingelt, die alle auf eine Revision dieses Zustands drängten. In diesem einem Punkt gab es Übereinstimmung zwischen mindestens drei Nachbarn: Deutschland, Sowjetrußland und Litauen. Und auch zur Tschechoslowakei war das Verhältnis schlecht: Polen mochte sich nicht damit abfinden, daß eine alliierte Botschafterkonferenz Ende Juli 1920 das zwischen Warschau und Prag umstrittene Gebiet von Teschen entlang des Olsa-Flusses so teilte, daß die Stadt Teschen in zwei Teile zerschnitten wurde und etwa 70.000 Polen Bürger der Tschechoslowakei wurden.
Das «Wunder an der Weichsel» war ein historischer Wendepunkt nicht nur für Polen. Der polnische Sieg ließ die Aussichten, die Revolution von Ost nach West zu tragen, drastisch sinken. Frankreich, das die Rolle der kontinentaleuropäischen Vormacht und des Hauptgegners Sowjetrußlands übernommen hatte, konnte die Früchte seiner militärischen Unterstützung Piłsudskis ernten: Polen wurde zum Eckstein jenes Kartells mittlerer und kleiner Staaten, das als «cordon sanitaire» sowohl das bolschewistische Rußland als auch Deutschland daran hindern sollte, ihren Einfluß auf das mittlere und südliche «Zwischeneuropa» auszudehnen.
Am 20. März 1921, zwei Tage nach dem Friedensschluß von Riga, fand die vom Versailler Vertrag vorgesehene Abstimmung in Oberschlesien statt. Knapp 60 Prozent sprachen sich für Deutschland, 40 Prozent für Polen aus, wobei 597 Gemeinden eine polnische und 664 eine deutsche Mehrheit aufwiesen. Die Reichsregierung forderte daraufhin ganz Oberschlesien für Deutschland, während Polen und die Alliierten für eine Teilung waren. Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, unterstützte die Warschauer Regierung insgeheim einen von dem früheren Reichstagsabgeordneten Adalbert Korfanty geführten Aufstand, in dessen Verlauf polnische Insurgenten große Teile des Abstimmungsgebietes besetzten.
Die Reichs- und die preußische Regierung antworteten mit Waffenlieferungen an den oberschlesischen Selbstschutz, eine seit 1920 bestehende paramilitärische Formation, die am 23. Mai zusammen mit dem bayerischen Freikorps «Oberland» den Annaberg, die höchste Erhebung Oberschlesiens, stürmte. Ende Juni bewirkte die Interalliierte Abstimmungskommission den Abzug der bewaffneten Parteien. Am 20. Oktober 1921 entschied der Oberste Rat der Alliierten entsprechend einem Gutachten des Völkerbundsrates die Grenzfrage: Vier Fünftel des oberschlesischen Industriegebietes sollten zu Polen kommen – darunter die Städte Kattowitz und Königshütte, in denen es am 20. März große Mehrheiten für Deutschland gegeben hatte. Deutschland blieb nur der Protest gegen diese Auslegung des Selbstbestimmungsrechtes. Machtmittel, um eine günstigere Entscheidung herbeizuführen, hatte es nicht.
Polen war nicht das einzige unter den Ländern im Lager der Sieger, das mit Entscheidungen der Verbündeten haderte. Auch Italien tat dies. Eshatte zwar Südtirol, Julisch-Venetien, Triest und Istrien sowie die Inseln des Dodekanes erhalten, nicht aber, wie die radikalen Irredentisten verlangt hatten, die einstmals venetianischen Gebiete an der dalmatinischen Küste bis hinunter zur Bucht von Cattaro oder Kotor, die dem neuen Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen
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