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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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Mächte in der Türkei, die sogenannten «Kapitulationen», wurden aufgehoben, die fremden Truppen auch aus Istanbul abgezogen. Als nicht durchsetzbar erwiesen sich nur die erstrebte volle Souveränität über die Meerengen und die Wiedergewinnung der erdölreichen Provinz Mosul. Die Türkei verpflichtete sichihrerseits, den türkischen Staatsangehörigen nichtmuslimischen Glaubens die gleichen Rechte, einschließlich der Religionsfreiheit, zu gewähren wie den Muslimen.
    Mit Griechenland war bereits im Januar 1923 Einverständnis über einen Austausch nicht nur der Kriegs- und Zivilgefangenen, sondern fast der gesamten muslimischen Bevölkerung Griechenlands und der griechisch-orthodoxen Bevölkerung der Türkei (außer den Griechen in Istanbul und den Türken Westthrakiens) erzielt und eine entsprechende Konvention abgeschlossen worden, die der Vertrag von Lausanne ausdrücklich bestätigte. Insgesamt wurden etwa 1,5 Millionen Griechen und 400.000 Türken umgesiedelt. Bereits vier Jahre zuvor, im November 1919, hatte der Vertrag von Neuilly einen ähnlichen Bevölkerungsaustausch zwischen der Türkei und Bulgarien vorgesehen.
    Eine von Staats wegen erzwungene, vertraglich vereinbarte, international sanktionierte, den Willen der Einzelnen mißachtende Massenumsiedlung ethnischer Minderheiten war ein Novum der internationalen Politik und des Völkerrechts. Was 1919 und 1923 zwischen der Türkei und ihren südosteuropäischen Nachbarn mit Zustimmung der westeuropäischen Großmächte vereinbart wurde, sollte die Schaffung ethnisch homogener Nationalstaaten ermöglichen. Es war ein frühes, aber, wenn man an die Massenvertreibungen während des Balkankrieges 1912/13 und die Vernichtung der Armenier 1915/16 denkt, nicht das erste Beispiel dessen, was man später «ethnic cleansing» (ethnische Säuberung) nannte – ein, wie sich nach dem Zweiten Weltkrieg zeigen sollte, gefährlicher Präzedenzfall.
    Am 13. Oktober 1923, elf Tage nach dem Abzug der alliierten Truppen aus Istanbul, erklärte Mustafa Kemal Ankara zur endgültigen Hauptstadt der Türkei. Am 29. Oktober rief die Große Nationalversammlung die Republik aus und wählte Mustafa Kemal zum Präsidenten. Damit begann ein historisch einzigartiger Modernisierungsprozeß: die grundlegende gesellschaftliche, politische und mentale Erneuerung eines islamischen Landes. Aus dem einstigen osmanischen Vielvölkerreich, das zugleich die Vormacht der muslimischen Welt gewesen war, sollte ein westlicher Nationalstaat, ja, wie der Staatsgründer schon im März 1923 auf dem «Wirtschaftskongreß» in Izmir erklärt hatte, die «modernste Nation» überhaupt werden.
    Der Untergang des Osmanischen Reiches, das Ende seiner Herrschaft über die arabische Welt, war notwendig, um die Türkei, soweites nur irgend ging, vom arabischen, aus Mustafa Kemals Sicht rückständigen Erbe zu befreien. Diesem Ziel dienten die Abschaffung des Kalifats am 3. März 1924, die Aufhebung der geistlichen Schulen und der islamischen Gerichte, die schrittweise Erweiterung der Rechte der Frauen, die forcierte Industrialisierung, die Europäisierung von Bekleidung und Kopfbedeckung, das Verbot der Derwischkonvente, die Verwandlung von Klöstern in Museen, die Einführung der christlichen Jahreszählung und der lateinischen Schrift, die Türkisierung der Sprache, ihre Reinigung von arabischen und persischen Elementen und nicht zuletzt die Beseitigung des Islam als Staatsreligion durch die Verfassung vom 20. April 1924, die den türkischen Staat als «republikanisch, nationalistisch, volksverbunden, interventionistisch, laizistisch und revolutionär» bezeichnete.
    Das Regime Mustafa Kemals, dem die Nationalversammlung 1934 den Ehrennamen «Atatürk» (Vater der Türken) verlieh, erinnerte in manchem an die Herrschaftssysteme des Aufgeklärten Absolutismus. Es war keine vollentwickelte Diktatur, aber noch weniger eine ausgereifte Demokratie. Die Partei des Staatsgründers, die Republikanische Volkspartei, hatte im Parlament stets die beherrschende Stellung inne und duldete nur zeitweise andere, konkurrierende Parteien neben sich. Die kemalistische Türkei orientierte sich systematisch an europäischen Vorbildern: Sie übernahm von der Schweiz das Zivil-, von Deutschland das Handels- und vom faschistischen Italien das Strafrecht. Das normative Projekt des Westens aber, die Ideen der unveräußerlichen Menschenrechte des Individualismus und des Pluralismus, eignete sie sich nicht an.
    Das Ende

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