Geschichte des Westens
Frage. Am 21. April 1920 schlossen Piłsudski und Petliura einen Offensivpakt ab, der die Volksrepublik Ukraine östlich des Dnjepr der Regierung Petliura überließ, die sich ihrerseits bereit erklärte, eine Föderation mit Polen einzugehen. Polen hätte damit nach Osten hin fast wieder den Gebietsstand erreicht, den es vor der Ersten polnischen Teilung im Jahre 1772 besessen hatte. Fünf Tage später begann die Offensive unter Piłsudskis persönlicher Führung. Die polnisch-ukrainischen Truppen stießen rasch bis Kiew vor, fanden jedoch nicht die erhoffte Unterstützung durch die einheimische Bevölkerung. Der Juni sah dann die Rote Armee auf dem Vormarsch. Dieser verlief so erfolgreich, daß Mitte Juli bereits Wilna und Grodno in «rote» Hände fielen. Die Entwicklung schien Lenin recht zu geben, der gegen den Rat Trotzkis auf eine Offensive der Bolschewiki gedrängt hatte, um endlich die kommunistische Revolution nach Warschau und von dort nach Deutschland, ja ganz Mittel- und Westeuropa zu tragen.
Die Lage wurde für Polen so ernst, daß der neue Ministerpräsident Wladyslaw Grabski, ein Nationaldemokrat, nach Spa reiste, wo er die Alliierten um Hilfe bat. Die Verbündeten waren dazu nur unter harten Bedingungen bereit: Polen mußte sich im voraus den Entscheidungen des Obersten Rates im Hinblick auf die Grenzen zu Litauen und derTschechoslowakei unterwerfen, zugunsten Litauens auf Wilna verzichten und seine Truppen auf eine Linie zurückziehen, die im wesentlichen die Kongreßpolens von 1815 war. Den Verlauf dieser Linie, die zugleich die künftige Ostgrenze Polens bilden sollte, teilte der britische Außenminister Curzon am 11. Juli, nachdem die Polen zugestimmt hatten, telegraphisch der sowjetrussischen Regierung mit. Die von den Bolschewiki so genannte Curzon-Linie nahm im Norden ihren Anfang an der Bahnlinie Dünaburg-Wilna-Grodno und ging dann über Brest den Bug entlang bis nach Krylów und schließlich durch Galizien westlich von Lemberg und östlich von Przemyol weiter nach Süden. Nur für den Fall, daß die Rote Armee diese Linie überschritt, sollte Polen westliche Militärhilfe erhalten.
Kurz darauf trat der «Bündnisfall» ein. Die westliche Hilfe, vor allem in Gestalt der Lieferung von Kriegsgütern, wurde aber durch viele Faktoren behindert: anhaltende Proteste der politischen Linken und der organisierten Arbeiterschaft in Großbritannien, wo Labour Party und Gewerkschaften sogar mit dem Generalstreik drohten, in Frankreich, Italien und Deutschland gegen einen Krieg gegen Sowjetrußland, die Weigerung der Danziger Hafenarbeiter, Munition von alliierten Schiffen zu entladen, das Nein der Regierungen in Berlin und Prag zum Transport von Truppen und Kriegsmaterial über deutsches beziehungsweise tschechoslowakisches Territorium. Polen war daher überwiegend auf sich selbst gestellt. Eine neue «Regierung der nationalen Verteidigung» unter dem Bauernführer Wincenty Witos, der Politiker aller Parteien mit Ausnahme der Kommunisten angehörten, stellte eine mit umgeschmiedeten Sensen bewaffnete Freiwilligenarmee von 80.000 Mann auf. Insgesamt wuchs die Stärke der polnischen Armee vorübergehend auf 900.000 Mann an.
Die militärische Wende zugunsten Polens führte Marschall Piłsudski, unterstützt von einem französischen Kontingent unter General Weygand, herbei. (Zu den Beteiligten auf französischer Seite gehörte auch der junge Charles de Gaulle, der seit 1919 als Stabsoffizier in der polnischen Armee Dienst tat.) Am 6. August entschied sich der polnische Staatschef für die Offensive. Die Schlacht von Warschau vom 13. bis 25. August 1920, die als «Wunder an der Weichsel» in die Geschichtsbücher einging, endete mit einem Sieg der Polen, dem einige Tage später ein weiterer Sieg am Njemen folgte. Die Rote Armee mußte den Rückzug antreten. Im September standen die polnischen Truppenbereits wieder tief in Weißrußland und der Ukraine. Am 9. Oktober nahmen sie kampflos Wilna ein. Sie setzten sich damit bewußt und mit Billigung Piłsudskis über ein zwei Tage zuvor unterzeichnetes polnisch-litauisches Abkommen hinweg, dem zufolge Wilna bei Litauen bleiben sollte.
Unter dem Eindruck des polnischen Vormarsches willigte Sowjetrußland in den Abschluß eines Vorfriedensvertrages ein, der am 12. Oktober 1920 in Riga unterzeichnet wurde und das Ende des Krieges bedeutete. Der endgültige Frieden, der am 18. März 1921 ebenfalls in Riga geschlossen wurde, brachte Polen eine Ostgrenze
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