Geschichte des Westens
des Osmanischen Reiches ließ, in den Worten des amerikanischen Politologen Samuel P. Huntington, «den Islam ohne Kernstaat» zurück. Die kemalistische Türkei konnte und wollte diese Rolle nicht übernehmen. Ihre Staatsideologie war ein auf politische und weltanschauliche Homogenität ausgerichteter säkularer Nationalismus. Dieser wandte sich, trotz der anderslautenden Bestimmungen des Vertrags von Lausanne, gegen jedes von der Mehrheitskultur abweichende religiöse oder sprachliche Anderssein. Die Christen, von denen es nach 1923 nur noch sehr wenige gab, die Kurden und die Alewiten bekamen das immer wieder zu spüren. Doch Religionsfreiheit genossen auch die Muslime nicht: Der Islam war zwar seit 1924 keine Staatsreligion mehr, seine Ausübung aber unterlag einer strikten staatlichenKontrolle. Die Verfolgung und Ermordung der Armenier ging ebenso wie die Vertreibung der Griechen in die Fundamente des neuen Staates ein. Die Politiker und Militärs, die wegen des Völkermords von 1915/16 angeklagt worden waren, kamen im März 1923 in den Genuß einer politischen Amnestie. Die unmittelbare Vorgeschichte der Staatsgründung wurde fortan tabuisiert, weil sie dem idealisierenden Bild der kemalistischen Revolution widersprach.
Zur Hauptstütze der Modernisierung von oben wurde das Militär. Es diente als Bollwerk gegen eine Re-Islamisierung und gegen alles, was den straffen Zentralismus des neuen Staates bedrohen konnte. Ein starker Staat war notwendig, um die Kluft zwischen dem entwickelten, urbanisierten Westen und dem rückständigen, agrarischen Osten der Türkei zu überbrücken. Die Bereitschaft, von Europa zu lernen, war in keiner islamisch geprägten Gesellschaft so groß wie in der Türkei. Das Ergebnis war eindrucksvoll, bedeutete aber letztlich nur eine Teilverwestlichung: Die Türkei Atatürks rezipierte vom Westen alles, was sich mit den Zielen und Idealen des Kemalismus vereinbaren ließ, und nichts, was sein Selbstverständnis ernsthaft hätte herausfordern können.[ 7 ]
Die Türkei konnte sich gegen den Vertrag von Sèvres auflehnen, ohne daß sie eine massive Intervention der Verbündeten befürchten mußte. Hätte Deutschland sich gegen die Ratifizierung des Versailler Vertrags entschieden, wäre die für diesen Fall geplante Besetzung durch Truppen der alliierten und assoziierten Mächte die unmittelbare Folge gewesen.
Dieser
Krieg nach dem Krieg fand in Mitteleuropa nicht statt, wohl aber ein anderer: der polnisch-russische Krieg von 1920. Kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, am 23. November 1918, hatte sich Piłsudskis Armee im Kampf mit den Ukrainern Lembergs bemächtigt; Ende Dezember wurden ohne größere Kampfhandlungen die Stadt Posen und die polnischsprachigen Teile der gleichnamigen Provinz eingenommen. Als Vorbedingung für die Eingliederung der neuen Westgebiete ratifizierte der polnische Sejm (bei zahlreichen Gegenstimmen der Nationaldemokraten) am 31. Juli 1919 einen Minderheitenschutzvertrag, der den Deutschen und anderen Minderheiten das Recht auf ein Mindestmaß an muttersprachlichem Schulunterricht verbürgte. Mit der Annahme des Friedensvertrages durch Deutschland war die polnische Westgrenze, abgesehen von Gebieten, in denen noch Volksabstimmungen vorgesehen waren, festgelegt.
Der Verlauf der Ostgrenze hingegen war um diese Zeit noch offen. Der russische Bürgerkrieg bot Polen die Chance, sein Gebiet im Zusammenspiel mit der einen oder der anderen Seite zu erweitern. Piłsudski sah in den großrussischen «Weißen» zunächst eine sehr viel größere Gefahr als in den Bolschewiki, die sich, wenn auch mit offenkundigen taktischen Hinterabsichten, für das Recht der nationalen Selbstbestimmung aussprachen. Deshalb verweigerte sich der Erste Marschall von Polen (dies war der Titel, den Piłsudski seit einer Akklamation seiner Legionäre vom 14. November 1918 trug) im November 1919 einem Hilferuf Denikins. Die Situation änderte sich, als seit dem Winter 1919/20 ein Sieg der «Roten» immer wahrscheinlicher wurde. Piłsudski ging von einer kurz bevorstehenden Westoffensive der Roten Armee aus. Tatsächlich wurde im Generalstab der sowjetrussischen Streitmacht im Februar 1920 ein Angriffsplan gegen Polen ausgearbeitet. Um dem erwarteten Schlag zuvorzukommen, entschied sich der Marschall von Polen, entgegen Warnungen des Großen Rates in Paris, zum Angriff auf die Rote Armee.
Als Bündnispartner kam nur die von Symon Petliura geführte ukrainische Volksrepublik in
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