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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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nicht mehr zur Verfügung. Der Partner der Entente cordiale von 1904, England, dachte nach 1918 nicht daran, Frankreich noch stärker und Deutschland noch schwächer zu machen. Frankreichs Partner waren jetzt Polen und die Staaten der «Kleinen Entente», zu der sich 1920/21 unter französischem Patrionat die Tschechoslowakei, Rumänien und das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen zusammenschlossen, um dem ungarischen Revisionismus wirksam entgegentreten zu können. Aber Polen, mit dem Paris im Februar 1921 einen Beistandspakt abschloß, war auch nach dem Frieden von Riga, zumindest im Hinblick auf seine Westgrenze und vorallem die zur Tschechoslowakei, selbst ein revisionistischer Staat, und die Staaten der «Kleinen Entente», mit denen der Quai d’Orsay zwischen 1924 und 1927 Bündnis- oder Freundschaftsverträge zuwege brachte, bedurften mehr der französischen Hilfe, als daß sie Frankreich, dem Erfinder des «Cordon sanitaire», solche hätten leisten können. Italien war über den «verstümmelten Sieg» verbittert und viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um ernsthaft als Bundesgenosse in Frage zu kommen. Die europäische Nachkriegsordnung war also prekär und der Friede fragil: ein Zustand, über den sich die französische Politik keinen Illusionen hingeben konnte.
    Das Werk der Friedenskonferenz von 1919/20 unterschied sich grundlegend von dem des Wiener Kongresses von 1814/15. Damals hatte das besiegte Frankreich mit am Verhandlungstisch gesessen; es erhielt Friedensbedingungen, die nichts von Rache und Vergeltung an sich hatten, sondern sich am Ziel eines stabilen Gleichgewichts ausrichteten. Die Friedensstifter von 1814/15 mußten noch keine Rücksichten auf ihre Völker nehmen; außer England waren sich alle einig, daß einem Anspruch der Völker auf politische Mitsprache, wenn überhaupt, dann nur in engen Grenzen Rechnung zu tragen war. Hundert Jahre später hatten die demokratischen Ideen sich soweit durchgesetzt, daß es unmöglich geworden war, Friedensverträge zu schließen, die den Willen der Völker mißachteten. Die Völker der Siegermächte wünschten die Bestrafung der Macht, der sie die alleinige Schuld am Krieg gaben, also Deutschlands, und ein Höchstmaß an Entschädigungen für das Leid, die Schäden und die Entbehrungen, die der Krieg mit sich gebracht hatte. Eine Regierung, die dieses Verlangen unter Berufung auf übergeordnete Gebote der Staatsräson zurückgewiesen hätte, wäre sofort gestürzt worden. Folglich konnte Deutschland kein Teilnehmer der Friedenskonferenz sein. Es mußte vielmehr die Bedingungen akzeptieren, die die Sieger unter sich ausgehandelt hatten.
    Im Hinblick auf Ostmitteleuropa mußte sich die Pariser Friedenskonferenz mit Problemen befassen, von denen einige bereits in der Revolution von 1848/49 auf die Tagesordnung gekommen waren. Damals hatten die meisten slawischen Völker der Habsburgermonarchie, anders als die Deutschen oder Italiener, noch keinen souveränen Nationalstaat angestrebt, sondern auf einen angemessenen Platz innerhalb des Vielvölkerreiches gedrängt. Sie waren dadurch zu Gegnern aller Kräfte geworden, die die Auflösung des Habsburgerreiches betriebenoder sie billigend in Kauf nahmen: der österreichischen Deutschen, soweit sie die Schaffung eines einheitlichen deutschen Staates unterstützten, der Polen, die die Teilung ihres Landes überwinden und auf ein unabhängiges Polen hinarbeiteten, und der Ungarn, die sich gegen die Oberhoheit des Kaisers in Wien auflehnten. Aus dieser Gegnerschaft ergab sich ein Bündnis mit der habsburgischen Gegenrevolution, das wesentlich zum Scheitern der Revolution in ganz Mitteleuropa beitrug.
    Sieben Jahrzehnte später gab es keine slawischen Völker mehr, die das Habsburgerreich aufrechterhalten wollten. Ihr Ziel waren jetzt unabhängige Nationalstaaten, und damit stellten sich erneut Probleme, die erstmals 1848/49 zutage getreten waren, als die Magyaren sich anschickten, aus den Ländern der Stephanskrone einen selbständigen, von Wien unabhängigen Staat zu machen, und damit den Widerstand der slawischen Nationalitäten wie auch der Rumänen und Deutschen herausforderten, die alle nicht zur ungarischen Titularnation gehörten. Die westliche, genauer gesagt französische Idee der «nation une et indivisible» setzte ein hohes Maß an nationaler Homogenität voraus oder erzwang dieses, wo es noch nicht vorhanden war. In Ostmittel- und Südosteuropa hingegen war eine nationale Gemengelage

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