Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
Vom Netzwerk:
eher die Regel als die Ausnahme. Die uneingeschränkte Anwendung des Mehrheitsprinzips konnte hier nur dazu führen, daß sich die stärkste Nationalität auf Kosten der anderen durchsetzte und deren Identität bedrohte.
    Die westlichen Verbündeten sahen dieses Problem und versuchten es mit Hilfe von Minderheitsschutzverträgen zu lösen. Ihre Ratifizierung war die Vorbedingung der vollen völkerrechtlichen Anerkennung der neuen, wiedererstandenen oder territorial stark vergrößerten Staaten Ostmittel- und Südosteuropas. Der erste der Minderheitenschutzverträge wurde am 28. April 1919 mit Polen abgeschlossen. Im Verlauf des Jahres 1919 folgten entsprechende Verträge mit dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, mit der Tschechoslowakei und Rumänien, im August 1920 der mit Griechenland. Die betroffenen Staaten sahen in den Verträgen schwerwiegende Eingriffe in ihre Souveränität und wehrten sich nach besten Kräften dagegen. Tatsächlich enthielten die Verträge nur Mindestforderungen im Hinblick auf die Gleichberechtigung
aller
Staatsbürger und gewisse kulturelle Rechte derjenigen unter ihnen, die nicht der Titularnation angehörten, darunterunter gewissen Voraussetzungen des Rechts auf muttersprachlichen Schulunterricht.
    Ein kollektives Recht auf nationale Identität enthielten die meisten Verträge nicht. Gewisse Ausnahmen zugunsten der ungarischen und der deutschen Minderheit enthielt der rumänische Minderheitenschutzvertrag. Litauen mußte, als Preis für die völkerrechtliche Anerkennung der defacto-Annexion des Memelgebiets im Januar 1923, in der Memelkonvention vom 8. Mai 1924 dem angegliederten Gebiet einen autonomen Status mit einem eigenen Landtag und einer eigenen Regierung gewähren. Am weitesten ging aus freien Stücken Estland, das 1925 seinen nationalen Minderheiten volle Kulturautonomie einräumte, so daß sie sich als öffentlich-rechtlicher Personenverband mit dem Recht auf Steuererhebung konstituieren konnten. Sowohl die deutsche als auch die jüdische Minderheit machten davon Gebrauch. Schule aber machte das estnische Beispiel nicht. Die meisten neuen Nationalstaaten begnügten sich mit der Erfüllung der Mindestbedingungen, die vom Völkerbund garantiert wurden. Die deutschen und die ungarischen Minderheiten hatten in ihren «Mutterländern» Protektoren, die dafür sorgten, daß das Thema Minderheitenschutz nicht in Vergessenheit geriet. Anderen Nationalitäten standen solche einflußreichen Schutzmächte nicht zur Verfügung.
    Der Historiker Theodor Schieder hat zwischen drei Phasen der Nationalstaatsgründung in Europa unterschieden. In der ersten Phase formten sich bereits bestehende Staaten durch die Integration ihrer Territorien in zentral regierte Nationalstaaten um: England nach den Revolutionen des 17. Jahrhunderts und Frankreich nach der Revolution von 1789 sind die beiden klassischen Beispiele. In der zweiten Phase, für die die Fälle Italien nach 1859 und Deutschland nach 1866 typisch sind, entstand der Nationalstaat aus dem Zusammenschluß mehrerer staatlich getrennter Nationsteile, wobei liberale Vereinigungsbewegungen und ein historischer Staat, Piemont beziehungsweise Preußen, zusammenwirkten. Der geographische Schwerpunkt war im Fall der ersten Phase Westeuropa, im Fall der zweiten Phase Mitteleuropa. Die Nationalstaatsgründungen von 1918/19 fallen in die dritte Phase, deren Anfänge bis zur Befreiung Griechenlands und Serbiens von der osmanischen Herrschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückreichen. Die neuen Nationalstaaten entstanden alle aus Sezessionsbewegungen, die sich gegen ein Vielvölkerreichrichteten, das osmanische, das habsburgische oder das der Romanows. Ihren Schwerpunkt hatte diese dritte und letzte Phase in Ostmittel- und Südosteuropa.
    Das westliche, besser französische Prinzip, wonach eine Nation auf der politischen Entscheidung der vielen Einzelnen beruht, so daß die Existenz der Nation nach dem berühmten Wort von Ernest Renan aus dem Jahr 1882 ein sich täglich wiederholendes Plebiszit (un plébiscite de tous les jours) ist, verlor, je weiter man nach Osten kam, immer mehr an Bedeutung. Schon in Deutschland überwog seit Herder die Ansicht, daß objektive Faktoren wie gemeinsame Sprache, Kultur und Überlieferung und nicht subjektive Willensäußerungen für die Zugehörigkeit zur Nation maßgeblich waren. In den weiter östlich gelegenen neuen Nationalstaaten galt das erst recht.
    In dieser verbreiteten

Weitere Kostenlose Bücher